Druckartikel: Handgranate auf Flüchtlingsheim - "neues Ausmaß der Gewalt"

Handgranate auf Flüchtlingsheim - "neues Ausmaß der Gewalt"


Autor: Eberhard Stadler, Claudia Hoffmann

Villingen-Schwenningen, Freitag, 29. Januar 2016

Seit Monaten häufen sich in Deutschland Anschläge gegen Flüchtlingsheime. Mit einer Granate im Schwarzwald erreicht die Gewalt eine neue Qualität. Im Ort sind viele Menschen schockiert.
Ein Modell der Handgranate M52 aus dem ehemaligen Jugoslawien steht am 29.01.2016 in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg) während einer Pressekonferenz vor dem leitenden Kriminaldirektor Andreas Stenger vom baden-württembergischen Landeskriminalamt. Unbekannte hatten eine Handgranate dieser Bauart über den Zaun einer Flüchtlingsunterkunft geworfen. Foto: Patrick Seeger/dpa


Die Frau auf der Straße ist sichtlich schockiert. Gudrun Günter steht vor dem Metallzaun, der das ehemalige Kasernengelände umgibt, demonstrativ hat sie sich ein Shirt mit der Aufschrift "Refugees welcome" über die pinkfarbene Winterjacke gezogen. "Ich will damit meine Solidarität mit den Betroffenen äußern", sagt sie trotzig. Die Frau mit der markanten roten Brille gehört zum Stamm von ehrenamtlichen Helfern, die sich in Villingen für Flüchtlinge engagieren. Dass hier, in ihrer Stadt, eine Handgranate auf eine Flüchtlingsunterkunft geworfen wurde - unglaublich. 1#googleAds#100x100


Obwohl der Splint gezogen wurde, kam es nicht zur Explosion

Die Polizei hat die Straßen weiträumig abgesperrt, außer den rot-weißen Bändern, den zahlreichen Beamten und einigen Experten in weißen Schutzanzügen deutet nichts darauf hin, was hier in der Nacht passiert ist. Es war gegen 1.15 Uhr, als Unbekannte einen Sprengsatz auf das Gelände in der Dattenstraße geworfen haben. Das Geschoss ist an einem Sicherheitszaun abgeprallt und neben einem Container des Sicherheitsdienstes liegen geblieben. Darin hielten sich zur Tatzeit drei Sicherheitsleute auf. Unmittelbar daneben befindet sich ein Spielplatz, der tagsüber meist rege von Kindern belegt ist. Verletzt wurde niemand - obwohl der Sicherungssplint gezogen wurde, kam es nicht zur Explosion.

Gudrun Günter spricht das aus, was die viele andere vor Ort nur denken. Die Handgranatenaktion sei wohl die Retourkutsche der rechtsextremistischen Szene gegen die Festnahme eines ihrer Aktivisten am Mittwoch im benachbarten St. Georgen. Bewiesen ist das noch längst nicht, noch nicht einmal der rechtsextreme Hintergrund ist klar. Es könnte sich auch um einen gezielten Anschlag gegen das Wachpersonal gehandelt haben. Doch wundern würde es offenbar niemanden, wenn Rechtsradikale eine tödliche Botschaft hätten senden wollen. "Die Rechten bekommen jetzt Panik", vermutet Gudrun Günter.

Der Anschlag - von wem auch immer er verübt wurde - schlägt längst bundesweit Wellen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) spricht von einem "feigen" Angriff. Die Attacke sei "inakzeptabel".

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärt, das "Ausmaß der Gewalt" sei "erschreckend". "Wir können alle nur dankbar sein, dass dieses Mal niemand verletzt wurde." Sie alle sprechen von einer neuen Dimension der Gewalt.

"Also das ist wirklich unfassbar, dass jetzt schon mit Handgranaten - quasi mit militärischen Waffen - auf Asylsuchende losgegangen wird", sagt Kretschmann. Der Angriff auf das Flüchtlingsheim Villingen-Schwenningen ist bundesweit der erste Fall, bei dem Sprengstoff zum Einsatz kam.

Doch am größten war der Schock freilich vor Ort, in der Schwarzwaldstadt mit ihren rund 84.000 Einwohnern. "Dieser versuchte Anschlag ist entschieden zu verurteilen", sagte Oberbürgermeister Rupert Kubon (SPD). Er war gestern Vormittag gemeinsam mit Landrat Sven Hinterseh (CDU) und dem Regierungsvizepräsidenten Klemens Ficht in die Unterkunft geeilt, um sich ein Bild von den Ermittlungen zu machen. Sie alle treibt die Sorge um, dass die Stimmung in der Stadt kippt. Landrat Sven Hinterseh hob das außergewöhnliche ehrenamtliche Engagement vieler Bürger in der Flüchtlingshilfe hervor. "Wir werden alles tun, diesen Geist zu erhalten und wollen verhindern, dass Miteinander von einigen Chaoten gestört wird." Am Tatort selbst herrscht am Vormittag emsiges Treiben. Die Polizei hat den Tatort um die großen Wohnblocks, in denen früher französische Soldatenfamilien untergebracht waren, weiträumig abgesperrt. Der Villinger Außenring ist während der Ermittlungsarbeiten auf einer Länge von 400 Meter stundenlang nicht passierbar, Polizeibeamte leiten den Verkehr um.

Beobachtet wird die Arbeit der Ermittler von einem Großaufgebot von Fotografen, Journalisten und Kamerateams. Die Kripo Rottweil richtet derweil die Sonderkommission "Container" ein.

Von den Flüchtlingen hingegen ist gestern niemand zu sehen. Sie werden von der Heimleitung abgeschirmt. In der Nacht waren die Wohnblocks evakuiert worden, rund 20 Personen mussten ihre Wohnungen verlassen, bis Sprengstoffspezialisten der Polizei die Granate gegen 5 Uhr gesprengt hatten. "Die Leute wollen jetzt ihre Ruhe haben", sagt Lars Frauenheim vor der Unterkunft. Er ist Sozialpädagoge bei der Arbeiterwohlfahrt und mit drei weiteren Kollegen der AWO und Diakonie für die Betreuung der Flüchtlinge in der Unterkunft eingesetzt. "Die Menschen waren geschockt", schildert er die Reaktion der Flüchtlinge. "Das Schlimme ist: Die Leute kommen aus Kriegsgebieten und müssen hier nun das Selbe erleben." Thomas Moser, stadtbekannter Lokal-Kabarettist, wohnt in einem Wohnblock auf der gegenüber liegenden Straßenseite des Anschlagsziels. "Ich weiß nicht wohin das führen soll. Die sollen doch die Leute leben lassen, die tun niemanden was", sagt er. In den vergangenen Monaten gab es "keinen Ärger, es hat noch nie was gegeben". Von den Flüchtlingen habe er nur wenig mitbekommen. "Diejenigen, die am weitesten weg sind, regen sich am meisten auf." In einer eigens eingerichteten Sonderkommission "Container" ermitteln inzwischen 75 Beamte. Noch am Nachmittag wird eine Pressekonferenz einberufen. Der leitende Oberstaatsanwalt aus Konstanz, Johannes-Georg Roth, sagt, die entscheidende Frage sei nun, ob die Handgranate einen Zünder hatte oder nur aufgrund eines technischen Defekts nicht detoniert sei. "Wenn die Granate einen Zünder gehabt hat, haben wir es mit einem schweren Verbrechen zu tun. Sonst wäre es eine einfache Straftat." Die Ermittlungen würden mit Hochdruck laufen, sie gehen in alle Richtungen.

Alle Nachbarn seien bereits befragt worden, die Aussagen müssten jetzt ausgewertet werden, erklärt Dietmar Schönherr, Leiter der Kriminaldirektion Rottweil. "Wir können einen fremdenfeindlichen Hintergrund nicht ausschließen", sagt er. Die rechte Szene im Bereich Schwarzwald-Baar-Heuberg sei gewachsen.

Nach dem Anschlag sind noch in der Nacht alle Flüchtlingsunterkünfte in der Region informiert worden: "Da haben wir die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren", berichtet Ralf Thimm, leitender Ermittler, der in der Nacht vor Ort war. Vor zwei Wochen hat das Regierungspräsidium als Betreiber der Notunterkünfte - unabhängig von den aktuellen Geschehnissen - die Sicherheitsvorkehrungen überprüft. Nun steigt der Druck. "Diese müssen ertüchtigt werden", sagt der stellvertretende Regierungspräsident Klemens Ficht. Eine Videoüberwachung sei rechtlich schwierig, da gerade bei der Erstaufnahmeeinrichtung in Villingen viele Privatpersonen in direkter Nähe wohnen - damit greift der Datenschutz.

Was die Polizei aber tun will, ist in der nächsten Zeit ihre Präsenz rings um Flüchtlingsunterkünfte in der ganzen Region zu erhöhen. "Aber da gibt es schon länger ein Konzept, wie von der Direktion in Tuttlingen aus die einzelnen Reviere in Villingen, Schwenningen und Donaueschingen unterstützt werden, in deren Zuständigkeitsbereich Erstaufnahmeeinrichtungen liegen", berichtet Ralf Thimm. Die Polizei sei verstärkt vor Ort, suche den Kontakt mit Anwohnern und Flüchtlingen und zeige Präsenz. Da aber gerade in Villingen die Zahlen in der Erstaufnahmeeinrichtung von 1100 Ende 2014 auf aktuell 104 zurückgegangen sind, habe es in den vergangenen Monaten kaum sicherheitsrelevante Einsätze gegeben.

Die Handgranate ist am frühen Freitagmorgen um fünf Uhr von Spezialkräften des Landeskriminalamtes kontrolliert gesprengt worden. Dazu haben die Experte die Granate maschinell auf eine Wiese gebracht, dieser Platz ist mit Strohballen abgeschirmt worden. Vorsorglich hat die Polizei zwölf Personen evakuiert, bevor die Granate in einer Bodenmulde gesprengt worden ist. "Das war ein hochbrisanter Einsatz, da es sich um einen Blindgänger gehandelt hat, der nicht mehr handhabbar war", sagt Andreas Sprenger vom Landeskriminalamt. Er erklärt, dass eine Granate nur explodieren kann, wenn sie einen Zünder hat. Darum versuchen die Experten jetzt herauszufinden, ob ein solcher Zünder angebracht war.

Bei der Granate handelt es sich um ein Modell M52, das im früheren Jugoslawien hergestellt worden ist. Die meisten Handgranaten kommen aus dem Westbalkan auf illegalen Wegen nach Deutschland. Im Inneren der Granate befinden sich 100 Gramm TNT-Sprengstoff, ummantelt von dickem Stahl. "Das hochgefährliche an einer Granate ist weniger die Sprengwirkung, es sind die Splitter, die mit einer enormen Wucht umherfliegen und im Bereich bis 20 Meter tödlich sein können", sagt Andreas Sprenger. Um herauszubekommen, ob es einen Zünder gab, werden die Überreste der Granate jetzt chemisch untersucht. Gefährdet waren drei Sicherheits-Leute, die sich in dem Container aufgehalten haben, vor den die Granate von den Unbekannten geworfen worden ist. "Die Sicherheitskräfte haben ein Geräusch gehört, sind rausgegangen und haben die Granate entdeckt", erläutert Dietmar Schönherr.

Wäre die Granate explodiert, hätten die Wachleute sicher schwere Verletzungen davongetragen oder wären sogar getötet worden.

VON EBERHARD STADLER UND CLAUDIA HOFFMANN