Die Leiche in der Kleinstadtidylle
Autor: Petra Breunig
Bamberg, Freitag, 27. Mai 2016
Mit "Was ich Euch nicht erzählte" legt Celeste Ng einen beeindruckenden Roman vor.
"Lydia ist tot." Wenn es um die Wirkung des berühmten ersten Satzes eines Buches geht, dann ist dieser, mit dem Celeste Ng ihren Roman "Was ich euch nicht erzählte" beginnt, sicherlich einer der direktesten. Ohne eine Vorgeschichte wird der Leser mit einer Katastrophe konfrontiert, die aber zunächst noch gar nicht stattgefunden hat. Schließlich ist das strebsame intelligente Mädchen erst einmal nur nicht zum Frühstück am Küchentisch erschienen, auf dem ihre Mutter neben der Müslischale einen gespitzten Bleistift und Physikaufgaben gelegt hat.
Ohio in den 70ern
Ein Szenario, das wie der Leser im Laufe der Geschichte erfährt, so typisch ist für die Familie Lee, einer Familie in einer Kleinstadt im Ohio der 70er Jahre.
Lydias Mutter Marilyn, eine Amerikanerin, die eigentlich Ärztin werden wollte, bevor sie ihren Mann James, Sohn einer Einwandererfamilie in der zweiten Generation, kennenlernte. Zusammen haben sie sich eine familiäre Idylle geschaffen, die vor allem geprägt ist von ihrem Ehrgeiz, ihre Lieblingstochter Lydia zu einem überragenden Abschluss und später zu einer Karriere zu verhelfen, die ihre Eltern - vor allem aber ihre Mutter - nie gemacht haben.
Wechselnd zwischen Rückblenden, die das Leben der Eltern vor ihrer Heirat zeigen, der Suche nach dem Mädchen und der Ursache für ihren Tod, erzählt die amerikanische Schriftstellerin Celeste Ng (sprich: Ing) in ihrem ersten Roman die Geschichte einer Familie, die geprägt ist vom Versuch beider Eltern ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen: Marilyn kann es nicht verkraften, dass sie keine Ärztin geworden ist. James kommt mit seinem asiatischen Aussehen nicht zurecht. Und beide versuchen ihre eigenen Unzulänglichkeiten - mögen diese auch nur eingebildet sein - mit der überzogenen Förderung ihrer Tochter zu kompensieren. Was Lydia von diesem ständigen Leistungsdruck hält, interessiert sie ebenso wenig wie die Gefühle ihrer beiden anderen Kinder, ihrer jüngsten Tochter Hannah und ihrem Sohn Nathan, denen sie nie auch nur annähernd die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen.
Eindringliche Sprache
Mit "Was ich euch nicht erzählte" legt Celeste Ng einen Roman vor, der eine Bereicherung für das immer gleiche Wer-war-der-Mörder-Szenario des Krimis ist und der gerade wegen seiner unaufgeregten und dennoch eindringlichen Sprache (eine wunderbare Übersetzungsleistung von Brigitte Jakobeit) die Spannung von der ersten bis zu letzten Seite hält.Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte, dtv, 19,90 Euro.