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Tor oder nicht Tor? Ist doch herrlich!


Autor: Sebastian Martin

Bamberg, Dienstag, 01. Oktober 2013

Sollte in der Fußball-Bundesliga an der Torlinie Technik für absolute Gewissheit sorgen? Sebastian Martin meint: Nein, streiten gehört dazu und Fehler sind menschlich.
Europameisterschaft 2012: John Terry (England) versucht den von Marko Devic (Ukraine, nicht im Bild) geschossenen Ball vor der Torlinie zu klären, kommt aber zu spät. Der Torrichter schätzt die Situation falsch ein und gibt kein Tor. Ist doch herrlich - findet unser Autor.  Foto: imago (Archiv)


Nostalgie zählt nichts mehr. Auch in 50 Jahren Bundesligageschichte nicht. Ein halbes Jahrhundert Fußball - das gerade so aufregend war, weil es Fehlentscheidungen gab. Haarsträubend groteske Fehlentscheidungen sogar.

Das Phantomtor von Thomas Helmer im Spiel des FC Bayern gegen den 1. FC Nürnberg in der Saison 1993/94 ist so ein Beispiel. Ohne das gegebene Tor, das damals keines war (Club-Fans mögen sich erinnern), wäre Nürnberg wohl nicht abgestiegen. Richtig. Mit einer Torlinien-Technologie, die den Torraum überwacht, wäre nie auf Tor entschieden worden. Richtig. Es gäbe dann aber keine kuriose Geschichte. Auch richtig.

Die vergangenen 50 Jahre Bundesliga würden dann sehr langweilig aussehen - für uns Fans. Auf Wikipedia gäbe es den Eintrag "Phantomtor" wohl nicht. Und Thomas Helmer könnte heute nicht Größe zeigen, indem er sagt: Ich habe einen Fehler begangen, weil ich nicht ehrlich war.

Doch Nostalgie zählt nicht in dieser Diskussion. Legenden eben auch nicht - aus Sicht der Fußballunternehmer. Also, lassen wir eben hier die Nostalgie weg. Denn was zählt, ist der Fortschritt. So wird argumentiert, wenn etwas wie die Torlinien-Technik eingeführt werden soll. Der Fan - schließen wir ihn mit ein - will ja schließlich Klarheit. Er will keine Debatten mehr. Er will wissenschaftlich exakt wissen, ob ein Tor gefallen ist oder nicht.

Die Anbieter der Torlinien-Technologien tun hierfür ihren bestmöglichen Job. Das ist okay. Doch die Fußballwelt darf dann plötzlich nicht mehr streitbar sein. Fehlbarkeit wird in dieser Welt, die sich ohnehin mehr und mehr von den Fans entfernt, schließlich als Makel wahrgenommen.

Ein Schiedsrichter aber ist fehlbar. Wollen wir uns nicht mehr auf ihn verlassen, schaffen wir ihn ab. Und machen wir ihn zum Verwalter einer Technik, die ihn mehr und mehr überflüssig macht. Eine Stärkung des Schiedsrichters sieht anders aus. Das Gegenteil ist passiert. Seine Position ist geschwächt, auch wenn die Schiedsrichter die Einführung der Torlinien-Technik begrüßen. Aber warum tun sie das?

Sie wollen nicht länger die Buhmänner sein, in einer Zeit, in der mittels Super(!)-Zeitlupen mit Maximalzoom praktisch jede Entscheidung des Referees in jedem Wohnzimmer überprüft werden kann. Aber wo bitte führt das hin? Muss zukünftig das gesamte Spielfeld überwacht werden, um jede Entscheidung korrekt zu beurteilen? Abseits entscheidet mindestens genauso über viele Millionen Euro wie Tor oder nicht Tor. Oder Hand oder nicht Hand. Absichtlich oder nicht absichtlich: Wir müssten schon die Gehirne der Spieler elektromagnetisch verkabeln, um alles genau beantworten zu können.

Nostalgie ist tot, sagen viele. Gut. Führt die Torlinien-Technologie auch in der Bundesliga ein, aber beschwert euch nicht, wenn es irgendwann nicht mehr euer Sport ist.