Marcel Reif über Kommerz, die WM in Russland und persönliche Beleidigungen
Autor: Christoph Hägele
Bamberg, Dienstag, 06. Juni 2017
Trost und Freude findet Marcel Reif im Fußball auch nach dem Ende seiner Karriere als Kommentator. Den Blick für die Schattenseite hat er sich auch bewahrt.
Ein Fußballkommentator, der seinen Beruf ernst nimmt, schafft sich Feinde und Verächter. Marcel Reif war ein solcher Kommentator, das journalistische Ethos war ihm heilig. Reif nahm sich die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen: Ein schlechtes Spiel nannte Reif ein schlechtes Spiel, eine verdiente Niederlage schlicht und ergreifend verdient.
Vielen heroisch mit ihren Klubs leidenden Fans trieb Reifs gnadenlos unbestechlicher Blick regelmäßig die Zornesröte ins Gesicht. Seiner Sprachkunst und seiner kindlichen Liebe zum Fußball werden aber auch sie regelmäßig erlegen sein. Selbst wenn sie es nie zugeben wollten.
Frage: Beim Confed-Cup in Russland sollen Journalisten nur über Fußball, nicht aber über etwaige gesellschaftliche Missstände berichten. Hätten sie sich überhaupt für etwaige Missstände interessiert?
Marcel Reif: Ich hoffe, dass Sie darüber berichtet hätten und sich jetzt von der Anordnung nicht daran hindern lassen, mit offenen Augen nach Russland zu reisen und darüber berichten, was sie sehen. Wenn sie das nicht täten, wären sie keine guten Journalisten. Natürlich haben Sportjournalisten eine andere Aufgabe als politische Korrespondenten. Aber mit Scheuklappen durch die Welt laufen sollten sie auch nicht.
Frage: Dann lassen Sie uns politisch werden: Gehört eine Fußball-WM in autoritär regierte Länder wie Russland oder Katar?
Antwort: Das ist eine Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Die Frage ist, ob ein Land wie Katar zwölf neue Stadien braucht, ob das nicht eine riesige Verschwendung von Ressourcen ist. Westliche Gesellschaften haben auf diesen Gigantismus immer weniger Lust. Bedeutet dies, dass sportliche Großveranstaltungen nur noch in autokratischen Ländern stattfinden, wo die Bürger kein Mitspracherecht haben? Grundsätzlich aber muss sich jeder für eine WM oder Olympische Spiele bewerben können. Warum auch nicht?
Frage: Weil die Verhältnisse in diesen Ländern nicht mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten in Einklang stehen.
Antwort: Da wäre die Fifa in der Verantwortung gewesen, schon vor der Vergabe auf die Einhaltung von rechtlichen Standards zu pochen. Das ist offenbar nicht in ausreichendem Maße geschehen und deshalb steht die Fifa auch völlig zurecht im Feuer. Diese Versäumnisse herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst von Journalisten. Sie sehen, die Journalisten machen ihren Job. In Katar beispielsweise ist die Behandlung von ausländischen Arbeitskräften ein riesiges Problem.
Frage: Als die Spieler von Borussia Dortmund nur einen Tag nach dem Anschlag auf den Mannschaftsbus gegen Monaco antreten mussten, sollten sie in den Augen vieler auch die offene Gesellschaft verteidigen. Können junge Kicker diesen Auftrag überhaupt schultern?
Antwort: Es war richtig, ein Zeichen zu setzen. Es war richtig, sich von dieser Attacke, die anfangs ja noch für einen Terroranschlag gehalten wurde, nicht einschüchtern zu lassen. Dass man damit jungen Männern von 20 oder 25 Jahren eine Art Heldentum aufgezwungen hat, befremdet mich auf der anderen Seite aber auch. Das ist ein Widerspruch, für den ich aber auch keine Lösung habe.
Frage: Wird der Fußball nicht dramatisch überhöht und auch überfordert, wenn er plötzlich die freie Gesellschaft verteidigen soll?
Antwort: Der Fußball ist eine riesige Sache, ein Massenphänomen. Er bringt Menschen unterschiedlicher Schichten zusammen, lässt sie gemeinsam eine tolle Zeit erleben. Der Fußball ist in seiner gesellschaftlichen Bedeutung kaum zu überschätzen. Aber alles hat selbstverständlich auch seine Grenzen.
Frage: Überschreiten die Beleidigungen, die Sie als Kommentator aushalten mussten, schon diese Grenzen?
Antwort: Ach, Beleidigungen. Die haben mich nicht groß gekümmert. Die konnte ich akzeptieren, die gehören zum Job eines Kommentators einfach dazu. Beleidigungen sind im Gehalt quasi schon mit eingepreist. Aber ich bin auch bedroht worden. Verbal, aber auch körperlich. Da ist die Grenze dann wirklich überschritten. So wichtig ist dann Fußball wirklich nicht.
Frage: Was verleidet Ihnen ansonsten den Spaß am Fußball?
Antwort: Die Kommerzialisierung des Fußballs hat inzwischen ein Maß erreicht, das auch mich ratlos macht, manchmal auch abstößt. Die Ablösesummen und Gehälter, die hier für junge Männer, die ganz gut mit einem Ball umgehen können, bezahlt werden, lassen sich immer weniger rechtfertigen. Selbst wenn ich natürlich weiß, dass die Spieler mit ihrem Können riesige Einnahmen generieren und deshalb auch an diesen beteiligt werden müssen. Aber überlegen Sie sich mal, wie wenig im Vergleich ein Neurochirurg verdient. Das ist doch obszön!
Frage: Entfremdet haben sich die Fans von den Millionären in kurzen Hosen trotzdem nicht.
Antwort: Nein. Wenn es nicht läuft, schreien sie "Scheiß Millionäre". Das war es dann auch. Ob das so bleibt, wenn die Summen und Gehälter weiter steigen, wage ich aber zu bezweifeln.
Frage: Befällt Sie bisweilen das schale Gefühl, Ihr Leben mit dem Fußball einer vergleichsweise nebensächlichen Sache gewidmet zu haben?
Antwort: Diese Frage können Sie nicht ernst meinen. Wenn ich mich in meinem Leben für nichts anderes als für Dreier- und Viererketten interessiert hätte, wäre ich ein ziemlicher Idiot.
Frage: Sie bereuen also nichts.
Antwort: Ich habe meinen Traum gelebt. Ich bin dem Fußball verfallen und verdanke ihm alles. Ohne den Fußball hätte ich nicht das Leben, mit dem ich sehr glücklich bin. Und wenn Sie es schon auf eine grundsätzliche Ebene heben möchten: Der Fußball ändert nicht das Elend der Welt. Aber er macht es erträglicher.
Marcel Reif: Leben und Karriere
Biografie: Am 27. November 1949 kam Marcel Reif im polnischen Walbryzch zur Welt. 1957 zogen seine Eltern und er nach DeutschlandBeruf: Seit 1984 kommentierte Reif für wechselnde TV-Sender Fußballspiele. Mit dem Champions-League-Finale 2016 endete Reif seine Karriere als Kommentator.
Höhepunkt: Zu den glanzvollsten Stunden des preisgekrönten Kommentators zählt die Partie zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund am 1. April 1998. Der Spielbeginn hatte sich massiv verzögert, nachdem ein Tor umgefallen war. Reif und Moderator Günther Jauch füllten die gähnende Leere mit mal geistreichen, mal fast dadaistischen Improvisationen über den Fußball und das Leben: "Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan wie heute", sagte Reif.