Beim Lesen kann es sein, dass die Buchstaben der Wörter als Einzellaute gelesen werden und die Lautverschmelzung, die dafür sorgt, dass die Buchstaben ein Wort ergeben, nur eingeschränkt funktioniert. Die Lesegeschwindigkeit ist in den meisten Fällen sehr niedrig, es kommt häufig zu einem Stocken oder Verlieren der Zeile im Text. Buchstaben, Silben oder Wörter werden ausgelassen, vertauscht oder hinzugefügt. Es kann auch sein, dass Wörter durch ein ähnlich geschriebenes Wort ersetzt werden oder Wörter geraten werden. Meist besteht Schwierigkeit darin, den Inhalt von einem gelesenen Text wiederzugeben; Fragen zum Text werden dabei oft mithilfe von allgemeinem Wissen beantwortet.
Beim Schreiben können Schwierigkeiten beim Schreiben von Buchstaben, Wörtern und Sätzen auftreten. Formähnliche Buchstaben werden vertauscht, ebenso wie klangähnliche Laute. Buchstaben, Silben oder Wörter werden ähnlich wie beim Lesen ausgelassen oder vertauscht. Es kommt zu vielen Fehlern in Diktaten oder beim Abschreiben von Texten. Fehler können auch in der Grammatik oder der Zeichensetzung auftreten. Personen mit Legasthenie bzw. LRS haben oft eine unleserliche Handschrift.
Faktoren für eine Begünstigung von Legasthenie
Es gibt unterschiedliche Faktoren, die Menschen Probleme bereiten können, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Meist ist eine Kombination aus unterschiedlichen Faktoren für eine Legasthenie verantwortlich. Am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik konnte ein Forschungsteam bestimmte Genorte bestimmen, die vermutliche in Zusammenhang mit Legasthenie stehen. Doch bereits seit mehreren Jahren gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass die Genetik ein Faktor für Legasthenie sein kann. Wenn ein Elternteil Legasthenie hat, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Kind ebenfalls eine Legasthenie entwickelt.
Neurobiologisch betrachtet gibt es die Annahme, basierend auf Forschungsergebnissen, dass bestimmte Prozesse im Gehirn bei Personen mit Legasthenie anders ablaufen als bei Personen ohne Legasthenie. Kinder, die eine Legasthenie entwickeln, zeigen häufig schon sehr früh Unterschiede in der Sprachverarbeitung. So fand ein Forschungsteam am Max-Planck-Institut heraus, dass Legasthenie auch einen neuronalen Ursprung hat: Ein Teil des Zwischenhirns (der mediale Kniehöcker) verarbeitet akustische Informationen fehlerhaft.
Diese veränderten neurobiologischen Prozesse bei Personen mit Legasthenie beeinflussen Denk- und Wahrnehmungsprozesse, die sich auf den Erwerb der Schriftsprache auswirken. Denn sie beeinflussen die Vorläuferfähigkeiten wie die Bewusstheit über die lautliche Struktur der Sprache, die Bewusstheit über die Struktur von Wörtern und die Wortbildung sowie Buchstabenkenntnis, Wortschatz und Rapid Naming, das schnelle Benennen von Objekten oder Buchstaben. Zusätzlich führen die veränderten Prozesse zur Veränderung anderer kognitiver Bereiche, die ebenfalls relevant sind fürs Lesen und Schreiben. Dazu gehören etwa das Arbeitsgedächtnis, die Verarbeitung und Wahrnehmung von auditiven und visuellen Reizen sowie die Aufmerksamkeitsfähigkeit.
Ursachen einer LRS
Es muss nicht immer eine Legasthenie vorliegen, wenn eine Person Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat. So ist es auch möglich, dass eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) vorliegt. Für das Lernen von Schreiben und Lesen sind die ersten Schuljahre sehr entscheidend. Wenn hier der Anschluss an die Lerngruppe verloren wird, kann es zu einem dauerhaften Rückstand kommen, einer Lücke, die unter Umständen im Schulalltag nicht mehr geschlossen werden kann. Das kann beispielsweise durch eine lange Fehlzeit in der Schule oder häufige Schulwechsel geschehen. Weitere Gründe können eine unzureichende Förderung oder unerkannte Hürden im frühen Lernprozess sowie Demotivation durch negative Erfahrungen sein.
Die Ursache muss dabei aber nicht zwangsläufig schulisch bedingt sein. Die Gründe können zum Beispiel auch im familiären Umfeld liegen. LRS kann sich entwickeln, wenn die Lebensumstände schwierig sind. So zum Beispiel durch Zeitmangel der Eltern oder finanzielle Probleme, wenn es nur wenige räumliche Rückzugsmöglichkeiten zum Lernen gibt oder wenn die lernende Person zu wenig Zeit hat und anderen Verpflichtungen nachgehen muss. Auch schriftferne Elternhäuser, in denen Lesen und Schreiben im alltäglichen Leben keine Rolle spielt, können eine LRS begünstigen.
Des Weiteren können neurobiologische Gründe das Erlernen von Lesen und Schreiben tangieren. So kann zum Beispiel eine Legasthenie, ein Sprachfehler oder eine zu spät erkannte Sehschwäche oder Schwerhörigkeit Ursache für eine LRS sein. Bereits erworbene Schreib- und Lesekompetenzen können außerdem in Folge von fehlender Nutzung wieder verlernt werden.
Therapiemöglichkeiten für Legasthenie und LRS
Legasthenie ist nicht heilbar. Aber eine frühe und zielgerichtet Therapie kann helfen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben deutlich zu verbessern. Dies gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche, auch bei Erwachsenen kann eine Legasthenie-Therapie sinnvoll sein. Diese sollte bei den Symptomen und der Sinneswahrnehmung ansetzen.
Ziel der Therapie ist es, Strategien zu entwickeln, um die auftretenden Probleme beim Lesen und Schreiben zu bewältigen. Zusätzlich können individuelle Lernstrategien entwickelt werden. Durchgeführt wird eine solche Therapie von geschulten Therapeutinnen und Therapeuten. Es gibt auch spezielle Förderprogramme, die bereits wissenschaftlich evaluiert sind und somit auf ihre Wirksamkeit geprüft.
Bei den Therapiemöglichkeiten kann unterschieden werden zwischen dem Training kognitiver Funktionen (z. B. visuelle Wahrnehmung) und dem Re-Programmieren neurologischer Defizite (z. B. Hörtraining zur Tonschwellenunterscheidung) sowie symptomspezifisches Training (z. B. Aneignung von Regeln). Bei einer LRS liegt der Schwerpunkt auf den Symptomen, dem Erlernen von Rechtschreibregeln und das Arbeiten an konkreten Fehlern.
Mögliche Folgen von Legasthenie und LRS
Rund 3,5 Millionen Legastheniker und Legasthenikerinnen leben allein in Deutschland (Stand 2020). In der Schule werden Betroffene häufig als dumm oder faul betrachtet. Jungen sind statistisch häufiger betroffen als Mädchen. Die Probleme beim Lesen und Schreiben sind entwicklungsstabil, das bedeutet, dass sie häufig bis zum Schulabschluss bestehen und darüber hinaus. Daraus folgt, dass das Niveau der Schulabschlüsse bei Personen mit Legasthenie deutlich geringer ist im Vergleich zu Nicht-Betroffenen, obwohl häufig hohe kognitive Fähigkeiten vorhanden sind. Auch das Berufsausbildungsniveau ist maßgeblich beeinflusst durch die Persistenz der Legasthenie.
Betroffene Kinder leiden laut der Uni Würzburg häufiger unter Ausgrenzung und Stigmatisierung, rund 40 Prozent erkranken psychisch. Schulkinder fühlen sich oft minderwertig, ihr Selbstbewusstsein wird stark beeinflusst, was zu Versagensängsten und Schulangst führen kann. Psychische Auswirkungen können sich auch durch Prüfungsangst oder Lustlosigkeit zeigen.
Kinder mit Legasthenie weisen zudem mehr Störungen im emotionalen und sozialen Bereich auf. Sie haben beispielsweise häufiger eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Fazit: Vorsicht vor Stigmatisierung
Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) sind voneinander zu unterscheiden. Während die LRS temporäre und reversible Probleme beim Lesen und Schreiben beschreibt, ist eine Legasthenie nicht heilbar. Es gibt Therapien und Lernstrategien, die Probleme beim Lesen und Schreiben zu verbessern oder im Falle einer Lese-Rechtschreib-Schwäche möglicherweise auch zu beseitigen. An dieser Stelle sei nochmals betont, dass eine Legasthenie sowie eine LRS nicht auf eine verminderte Intelligenz zurückzuführen sind und eine Stigmatisierung Betroffener mitunter weitgreifende psychische Folgen haben kann.