Stiedl: "Ja – und diese Distanz wird von den Arbeitgeberverbänden und teilweise auch von der Politik wohlwollend zur Kenntnis genommen. Wir sehen das sehr kritisch. Insbesondere die Arbeitgeberverbände schwächen sich selbst, indem sie OT-Mitgliedschaften anbieten und in Tarifverhandlungen auf Öffnungsklauseln setzen. Eine weitere Zerfledderung von Flächentarifverträgen und eine Schwächung der Tarifbindung im Allgemeinen zugunsten von kurzfristig gedachten Partikularinteressen schadet aber nicht nur den Sozialpartnern, sondern auch der Sozialen Marktwirtschaft insgesamt. Ukraine-Krieg und Corona-Krise sind aktuelle Beispiele für die stabilisierende Wirkung der Sozialpartnerschaft."
Warum haben insbesondere kleine und mittlere Betriebe so große Probleme mit Tarifverträgen?
Brossardt: "Die Tarifbindung ist kein Selbstzweck. Die Tarifvertragsparteien sind selbst für die Akzeptanz und Attraktivität ihrer Flächentarifverträge verantwortlich. Insbesondere neu gegründete Unternehmen gehen regelmäßig keine Tarifbindung ein. Der Anspruch an bewegliche Rahmenbedingungen durch Veränderungen in Technologie und Arbeitsabläufen ist groß. Deshalb werben wir für Öffnungsklauseln. Diese sind zwingend notwendig. Sie ermöglichen passgenaue Adaptionen an die unterschiedlichen betrieblichen Anforderungen."
Stiedl: "Im Handwerk verweigern sich immer mehr Innungen ihrer Aufgabe als Tarifvertragspartei. Es werden keine Verträge mehr abgeschlossen. Scheren Betriebe aus dem Tarifvertrag aus, ziehen unweigerlich andere Unternehmen nach. Insbesondere im KMU-Bereich kommt es zu einem Preiskampf über die Lohnkosten. Der kurzfristige Nutzen geringerer Lohnkosten hebt sich aber langfristig auf. Hinzu kommt, dass niedrige Löhne kontraproduktiv sind, wenn es darum geht, den Bedarf an Fachkräften zu decken. Ein flächendeckender Tarifvertrag würde dem entgegenwirken, indem der Wettbewerb über die Qualität und nicht über die Lohnkosten entschieden wird."
Machen die Arbeitgeberbände und Gewerkschaften Tarifpolitik an den Bedürfnissen der Betriebe und an den Beschäftigten vorbei?
Brossardt: "Leider in Teilen ja. Denn Tarifverträge müssen Trends der Zukunft, wie zum Beispiel Globalisierung, Industrie 4.0, Volatilität oder hybride Wertschöpfung berücksichtigen und dabei echte Mindestarbeitsbedingungen im ökonomischen Sinn beinhalten. Diese Arbeitsbedingungen müssen für die gesamte Branche passen und nicht nur für einige wenige Unternehmen. Dazu gehören Entscheidungsbefugnisse im Sinne einer betriebsnahen Tarifpolitik auf betrieblicher Ebene, betriebliche Differenzierungsklauseln sowie transparent formulierte und verständliche Tarifverträge. Ein wichtiges Anliegen ist auch, dass sich die Tarifvertragsparteien auf einen verantwortungsvolleren Umgang bei Arbeitskampfmaßnahmen verständigen. Wir dürfen den Flächentarifvertrag nicht überfrachten, ansonsten wird die Tarifbindung weiter sinken."
Stiedl: "Nein. Die Tarifverträge beinhalten eine Vielzahl an Anpassungs- und Flexibilisierungsmöglichkeiten. Hier wurde auf Anregung der Beschäftigten vieles verändert bzw. in die Tarifverträge hinein verhandelt. Allerdings wird vieles davon von Unternehmen oftmals zu wenig berücksichtigt und beworben. Insbesondere in Krisensituationen finden die Sozialpartner passgenaue Lösungen für Beschäftigte und Unternehmen. Beispiele dafür sind die Kurzarbeiterregelungen in der Finanzkrise von 2007 bis 2010, aber auch in der Corona-Krise."
Tarifverträge führen oftmals zu höheren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen und kürzeren Arbeitszeiten. Wollen Betriebe ohne Tarifbindung das umgehen?
Brossardt: "Nein, denn keine Tarifbindung ist nicht gleichzusetzen mit "Tarif-Ferne". Und: Viele Unternehmen ohne Tarifbindung orientieren sich am Flächentarifvertrag. Auch sind Unternehmen, die auf Basis deutscher Gesetze agieren, von der Verfassung gedeckt. So umfasst die Tarifautonomie auch die negative Koalitionsfreiheit, also die Möglichkeit, sich bestehenden Koalitionen nicht anzuschließen, bestehende Tarifverträge nicht anzuwenden oder einen Tarifträgerverband zu verlassen. Tarifbindung ist und war schon immer freiwillig. Das muss auch so bleiben."
Stiedl: "Das liegt auf der Hand. Langfristig ist das von den Betrieben allerdings zu kurz gedacht. Um stabil im Markt agieren zu können, braucht es Kontinuität. Diese wird u. a. durch die Bindung von qualifizierten Beschäftigten gewährleistet."
Bei den Arbeitgeberverbänden gibt es seit einigen Jahren zwei Varianten von Mitgliedschaft: Die eine ohne (OT) und die andere mit Tarifbindung. Ist das nicht ein "Sargnagel" für die Tarifbindung?
Brossardt: "Nein, es ist vielmehr Ausdruck der Unzufriedenheit über die Entwicklung des Flächentarifvertrags. Die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung gibt es zum Beispiel bei den bayerischen Metall- und Elektro-Arbeitgebern seit dem Jahr 2000 und sie ist eine Antwort auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften und dem damit verbundenen Vorgehen und Durchsetzen von maximalen Tarifforderungen. Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung wurde als Ausgleich für die fehlende Verhandlungs- und Arbeitskampfparität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern geschaffen. Sie ist Ausdruck der im Grundgesetz garantierten negativen Koalitionsfreiheit und heute ein unverzichtbarer Teil des Tarifsystems. Sie trägt zu dessen Stabilität bei."
Stiedl: "OT-Mitgliedschaften sind Gift für die Tarifbindung und untergraben die Sozialpartnerschaft. Die Bekenntnisse der Arbeitgeberverbände zur Tarifbindung sind vor dem Hintergrund, diese OT-Mitgliedschaften anzubieten, absurd. Sicher unterliegt es der Vertragsfreiheit und der Unternehmerentscheidung, Mitglied in einem Verband zu werden. Andererseits ist dieses Verhalten auch schädlich für die Bindung von Arbeitskräften, denen tarifliche Arbeitsbedingungen wichtig sind."
Haben Tarifverträge ihre Funktion, für den sozialen Frieden, gesellschaftlichen Zusammenhalt und fairen Wettbewerb zu sorgen, verloren?
Brossardt: "Nein, im Gegenteil. Es ist weiterhin so, dass Flächentarifverträge die Leitbedingungen der Branche stellen und damit einen wesentlichen Beitrag zum Betriebsfrieden und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Gerade im internationalen Vergleich sind wir durch das gute Miteinander der Sozialpartner sehr gut aufgestellt."
Stiedl: "Nein. Vielmehr sind Tarifverträge die wesentliche Stütze für einen fairen Wettbewerb. Je niedriger die Tarifbindung, desto unfairer der Wettbewerb, da dieser dann über Lohnkosten und Arbeitsbedingungen ausgetragen wird. Daher fordern wir auch seit vielen Jahren ein Tariftreue- und Vergabegesetz, um die Vergabe von öffentlichen Aufträgen einem fairen Wettbewerb unterzuordnen. Ebenso sorgen Tarifverträge nach wie vor für den Erhalt des sozialen Friedens. Die Friedenspflicht in den Tarifverträgen sorgt für klare Verhältnisse bei den Vertragsverhandlungen. Allein die Anzahl an Streiktagen in Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten ist hierfür ein eindeutiger Beleg."
Kann die Tarifbindung angesichts des Fachkräftemangels nicht eine Renaissance erfahren?
Brossardt: "Ich glaube nicht, dass der Fachkräftemangel die ursächlichen Probleme der sinkenden Tarifbindung beheben wird. Gute Arbeitsbedingungen gibt es auch jenseits des Flächentarifvertrags. Denn die Entscheidung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für einen Arbeitsplatz hängt nicht ausschließlich an der Frage der Tarifbindung und der Entlohnung. Die Auswahl hat viele Gründe, sei es Anerkennung und Erfüllung im Beruf, Work-Life-Balance oder Entwicklungschancen."
Stiedl: "Die Möglichkeit besteht. Allerdings bewirkt die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt auch, dass dringend benötigte Fachkräfte Arbeitsbedingungen über dem tariflichen Niveau aushandeln können und somit nicht auf den Tarifvertrag zurückgreifen. Von zentraler Bedeutung bleibt weiterhin die Mitgliederwerbung der DGB-Gewerkschaften in den Betrieben – insbesondere im KMU-Bereich. Nur so lässt sich die nötige Kampfkraft zur Durchsetzung von Tarifverträgen entwickeln."
Welche zwei Punkte schlagen Sie vor, um die Tarifbindung zu stärken?
Brossardt: "Wichtigster Punkt ist die Regelung von Mindestbedingungen im Flächentarifvertrag, die für alle Unternehmen einer Branche erfüllbar sind. Wir brauchen dafür interessengerechte und differenzierte Tarifverträge. Als zweiter Punkt darf es keinen staatlichen Zwang durch Eingriffe in die Tarifautonomie geben. Das wäre der Anfang vom Ende der Tarifbindung."
Stiedl: "Erstens: Die Bayerische Staatsregierung muss endlich über ihren Schatten springen und ein Tariftreue- und Vergabegesetz einführen, sodass öffentliche Gelder in Form von Aufträgen oder Fördermitteln nur an Unternehmen mit tariflichen Arbeitsbedingungen vergeben werden können. Das stärkt tarifgebundene Unternehmen und erleichtert nicht-tarifgebundenen Betrieben die Rückkehr in den Tarifvertrag. Und zweitens gehören OT-Mitgliedschaften endlich verboten."
Wer sind Bertram Brossardt und Bernhard Stiedl?
Bertram Brossardt, 62, Hauptgeschäftsführer (HGF) der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) und in Personalunion HGF des Bayerischen Unternehmensverbands Metall und Elektro (bayme). Der gelernte Jurist hat sein Studium an der LMU-München absolviert. Danach war in der Bayerischen Staatsregierung tätig, u.a. als Büroleiter bei Staatsminister Otto Wiesheu. Brossardt ist ehrenamtlicher Richter am Bundesarbeitsgericht. Er hat zwei Kinder.
Bernhard Stiedl, 51, ist seit Ende Januar neuer bayerischer DGB-Chef. Stiedl trat damit die Nachfolge des im Juni 2021 verstorbenen Matthias Jena an. Stiedl war seit 2018 IG Metall-Chef in Ingolstadt. Der gebürtige Deggendorfer hat von Jugend an im DGB, der Dachorganisation der Gewerkschaften, mitgearbeitet, zuletzt als Vorsitzender des DGB-Stadtverbandes Ingolstadt. Stiedl ist verheiratet und hat ein Kind.