Druckartikel: Droht Deutschland ein massiver Lehrermangel? Was Eltern von Schulkindern wissen sollten

Droht Deutschland ein massiver Lehrermangel? Was Eltern von Schulkindern wissen sollten


Autor: Klaus Heimann

Deutschland, Montag, 31. Januar 2022

Eine neue Untersuchung im Auftrag des Verbandes für Bildung und Erziehung (VBE) prognostiziert einen gewaltigen Mangel an Lehrerinnen und Lehrern. Fehlende Lehrkräfte sind in Bayern jetzt schon das größte Problem der Schulpolitik.
Bis 2030 fehlen bundesweit mindestens 81.000 Lehrkräfte.


  • Es fehlen 81.000 Lehrkräfte an den Schulen
  • Bayern: Wir steuern auf eine Katastrophe zu
  • Erster Prognosefehler der KMK: Nur den schlechten Status quo fortgeschrieben
  • Zweiter Prognosefehler der KMK: Das Neuangebot fällt deutlich geringer aus
  • Fatale Entwicklung bei den MINT-Fächern
  • Und so beschwichtigt die Politik: "Wir haben die Entwicklung im Blick"

Der Vorwurf ist hart: Die Schulpolitiker in den Ländern und in der Kultusminister-Konferenz (KMK) operieren mit falschen Zahlen, um den gravierenden Lehrkräftemangel in den nächsten Jahren möglichst lange zu vertuschen. Während die KMK von rund 14.000 fehlenden Lehrkräften ausgeht, kommt ein neues Gutachten auf 81.000.

Es fehlen 81.000 Lehrkräfte an den Schulen

Bis 2030 fehlen in Deutschland mindestens 81.000 Lehrkräfte. Das ergibt eine Untersuchung des renommierten Erziehungswissenschaftlers und Bildungsforschers Prof. Klaus Klemm von der Universität Duisburg-Essen im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Die Bildungsgewerkschaft VBE geht davon aus, dass in den kommenden Jahren deutlich mehr Lehrkräfte gebraucht werden, als von der Kultusministerkonferenz (KMK) angenommen. Die Modellrechnungen der KMK zum Neuangebot ausgebildeter Lehrkräfte bis 2030 seien "unseriös", ließ der Verband bei der Vorlage einer eigenen Studie verlauten.

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Grund der eigenen Untersuchung war ein tiefes Unbehagen angesichts der veröffentlichten Prognosen der KMK aus dem Dezember 2020 zum Neuangebot ausgebildeter Lehrkräfte. Und in der Tat, die Daten haben sich als falsch herausgestellt. 

"Die Zahlen der KMK sind unseriös und verschleiern den Lehrermangel. Die Situation ist viel dramatischer", beurteilte VBE-Chef Udo Beckmann die Lage. "Die nun vorliegenden Zahlen zeigen glasklar: Es ist viel dramatischer als von der KMK kommuniziert", sagte er. Auch Klemm wirft den Prognosedaten der KMK "mangelnde Seriosität" vor und bezeichnet die Ergebnisse zum Teil als "abenteuerlich".

Bayern: Wir steuern auf eine Katastrophe zu

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat der Politik mit Blick auf eine neue Studie zum Lehrkräftemangel Untätigkeit vorgeworfen. "Es wird deutlich, was die Politik seit vielen Jahren verschlafen hat und wir an den Schulen vor Ort merken. Wir sind jetzt schon zu wenige, um den Kindern gerecht werden zu können. Wenn die Politik nicht sofort handelt, billigt sie tatenlos, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern", sagte BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann in München.

Sie fordert ein schnelles Gegensteuern und bessere Arbeitsbedingungen, damit der Lehrermangel in Zukunft der Vergangenheit angehört. "Er stellt eine massive Bedrohung für Bildungsqualität, -gerechtigkeit und die Zukunft unseres Freistaats dar."

Schon seit Jahren warne der Verband, dass es zu wenige Lehrkräfte im Freistaat gebe. "Hätte die Politik damals gehandelt, wären unsere Schulen erstens jetzt nicht in dieser prekären Lage und wir wären zweitens besser gerüstet für die Zukunft."

Erster Prognosefehler der KMK: Nur den schlechten Status quo fortgeschrieben

Die 2020 von der KMK präsentierten Modellrechnungen sind, was den Lehrkräfteeinstellungsbedarf bis zum Jahre 2030 angeht, so schreibt Klemm, "durchaus belastbar". Aber das Problem sei, dass nur der Status quo an den Schulen einfach fortgeschrieben wird. Die Zahlen berücksichtigen 

  • keine Verkleinerungen der Klassenfrequenzen,
  • keine Verringerungen bei der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte und
  • auch keine Zusatzbedarfe durch den Ausbau von Ganztagsangeboten,
  • nicht den Weg zur inklusiven Schule oder
  • die verstärkte Forderung von Kindern und Jugendlichen in "Brennpunktschulen".

"Allein für die drei zuletzt genannten schulpolitischen Maßnahmen muss mit einem Zusatzbedarf von etwa 69.000 Stellen gerechnet werden", schreibt Prof. Klemm in seinem Gutachten.

Zweiter Prognosefehler der KMK: Das Neuangebot fällt deutlich geringer aus

"Die in den Modellrechnungen der KMK unterstellten Annahmen zum Neuangebot ausgebildeter Lehrkräfte sind im hohen Ausmaß unseriös", schreibt Klemm. Die Abweichungen sind in der Tat gravierend: Für den Zeitraum von 2020 bis 2030 erwartet die KMK ein Neuangebot von 349.000.

Im Gutachten wird das Neuangebot für diese elf Jahre mit 286.000 um 63.000 Personen niedriger eingeschätzt. "Selbst wenn es gelingen wurde, den Anteil der Studienanfänger*innen, die ein Lehramt anstreben, schon 2022 deutlich zu erhöhen, wurde sich dies erst am Ende der zwanziger Jahre in einer Erhöhung des Neuangebots ausgebildeter Lehrkräfte niederschlagen", schreibt Klemm.

Der Gutachter resümiert: Der Lehrkräftemangel ist in den kommenden Jahren deutlich großer als von der KMK erwartet.

Fatale Entwicklung bei den MINT-Fächern

Der von der KMK nur sehr allgemein angekündigte fachspezifische Mangel ausgebildeter Lehrkräfte wird insbesondere im Bereich der MINT-Facher (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ein "dramatisches Ausmaß annehmen".

Eine Analyse von Klemm für Nordrhein-Westfalen für die Telekom-Stiftung, die auf die übrigen Bundesländer tendenziell übertragbar ist, hat gezeigt, dass "die Schulen im Schuljahr 2030/31 nur ein Drittel der nötigen ausgebildeten MINT-Fachlehrkräfte zur Verfügung haben".

Klemm ist auch sehr pessimistisch, ob sich die düstere Entwicklung noch aufhalten lässt. "Ehrlich gesagt bin ich pessimistisch, dass man den Trend ändern kann. Es wurden nicht nur die Warnungen von 2014 in den Wind geschlagen. Es ist ja überhaupt sehr schwer, MINT-Fachkräfte für den Schuldienst zu gewinnen, weil sie in der Wirtschaft viel mehr verdienen können", erklärte er im Interview mit ZEIT ONLINE.

Wie die Politik versucht zu beschwichtigen - und was der VBE fordert

Die Präsidentin der KMK, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), sagte, alle 16 Länder seien sich der Lage bewusst und ergriffen landesspezifische Maßnahmen. "Solche Ergebnisse von Studien sind für uns nicht neu und wir haben die Entwicklung im Blick."

Der Forderungskatalog des Verbands Bildung und Erziehung (VBE): 

  • Wir brauchen eine bundesweite Fachkräfteoffensive, jetzt! 
  • Planung und Durchführung der Lehramtsausbildung müssen dringend verbessert werden. Es braucht eine Erhöhung der Studienplätze bei gleichzeitiger Verbesserung der Studienbedingungen und der Studienbegleitung, auch um eine Reduzierung der Abbruchquoten zu erzielen.
  • Die Attraktivität des Berufsbildes muss spürbar gesteigert werden. Es braucht die gleiche Bezahlung unabhängig von Schulform und -stufe und eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Schule.
  • Die Politik muss sich ehrlich machen, ob und wie ernst sie es meint mit den schulpolitischen Maßnahmen Ganztag, Inklusion, Integration und der Unterstützung von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen. Um diese Maßnahmen bedarfsgerecht umzusetzen, braucht es etwa ein Zwei-Pädagogen-System, was den Lehrkräftebedarf massiv erhöht. 
  • Der Lehrkräftemangel kann und muss durch den Aufbau und die Integration von multiprofessionellen Teams abgemildert werden. Verwaltungsaufgaben müssen minimiert oder durch entsprechende Fachkräfte durchführt werden. Schulpsychologinnen, Schulsozialarbeiter, Schulgesundheits- und IT-Fachkräfte können nicht nur Lehrkräfte entlasten, sondern auch an Schulen existente Aufgaben fachgerecht ausführen, für die Lehrkräfte nicht originär ausgebildet sind.
  • Schulabsolventinnen und Schulabsolventen müssen über eine bundesweite Lehrkräftegewinnungskampagne gezielt angesprochen werden, um den zwingend notwendigen schnellen Zuwachs an Studierenden zu erzielen.
  • Kurz- und mittelfristig notwendige Maßnahmen zur Abmilderung des Lehrkräftemangels, wie die Integration von Seiteneinsteigenden oder Pensionisten, müssen stetig evaluiert werden. Zudem muss für Seiteneinsteigende eine mindestens sechsmonatige Vorqualifizierung grundsätzlich sichergestellt sein.
  • Bedarfs- und Angebotsprognosen der politisch Verantwortlichen müssen valide, ehrlich, aktuell und vollumfänglich transparent erfolgen! Es braucht eine methodische Abstimmung zwischen den politisch Verantwortlichen. 
  • Das Ausmaß des Lehrkräftemangels verschleiernde und die Qualität der Bildung schwächende Taktiken, wie etwa die Erhöhung von Klassenteilern oder die Doppelberechnung von Lehrkräften bei Campuszusammenlegungen, müssen aufhören.
  • Es braucht weitere, kreative und die Bedürfnisse junger Menschen adressierende Maßnahmen, wie etwa wirksame Anreizsysteme, um (neue) Lehrpersonen für den Dienst in abgelegenen ländlichen Regionen zu gewinnen.
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