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DGB-Landesvorsitzender: "Die Gefahr ist real" - Verbaut Bayern die Zukunft seiner Arbeitnehmer?


Autor: Klaus Heimann

Deutschland, Montag, 21. November 2022

Bernhard Stiedl ist seit Januar der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Bayern. Für seine rund 800.000 Mitglieder fordert er jetzt, kurz nach Amtsantritt im Exklusiv-Interview mit in.Franken.de, eine andere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von der Staatsregierung.
Bernhard Stiedl ist seit Ende Januar 2022 neuer DGB-Chef in Bayern.


  • Droht eine De-Industrialisierung des Freistaats?
  • Transformation der Automobilindustrie führt zu Arbeitsplatzverlusten
  • Keine weitere Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen
  • Kritik am Wirtschaftsminister
  • DGB ist Anwalt der kleinen Leute

DGB-Chef Bernhard Stiedl (51) fordert im Exklusiv-Interview mit inFranken.de eine andere Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik für den Freistaat. Und: Er will nicht länger tatenlos zusehen, wie die Arbeitgeberverbände die Richtlinien der Politik im Wirtschaftsministerium bestimmen. Besonders stören ihn die Profit-Interessen von Krankenhausbetreibern.

inFranken.de: Was sind die brennendsten Probleme des Wirtschaftsstandorts Bayern?

Bernhard Stiedl: "Das, was in Deutschland jetzt ansteht, sind auch unsere Themen: der Krieg in der Ukraine, die Probleme bei der Energieversorgung mit ihren gewaltigen Auswirkungen auf die Betriebe und die Menschen, die Corona-Pandemie. Wir arbeiten an der Transformation in der Automobilindustrie, der Klimawende und der Digitalisierung. Das sind alles ungelöste Themen – auch in Bayern. Wir leben also keineswegs auf einer Insel der Glückseligen."

Sie sprechen sogar von De-Industrialisierung, also Bayern zurück zum Agrarstaat?

"Die Gefahr ist real. Bayern ist ein Automobilstandort erster Güte und wenn uns der Umstieg zur Elektromobilität nicht gelingt, dann haben wir massive Verwerfungen. Mit Audi und BMW haben wir gleich zwei große Hersteller. Bislang geht der Umstieg mit Personalabbau einher. Und die Bayerische Staatsregierung schaut tatenlos zu, anstatt die notwendigen Begleitmaßnahmen bei der Infrastruktur oder die Qualifizierung für die Beschäftigten anzuschieben. Das alles vergrößert die Gefahr der De-Industrialisierung. Wenn wir so weitermachen, werden wir zukünftig deutlich weniger Beschäftigte in der Industrie haben."

Müssen die Betriebe selber nicht auch innovativer sein?

"Der Umstieg auf Elektromobilität ist politisch gewollt. Dann hat die Politik auch die Verantwortung dafür, notwendige Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist aber nur unzureichend passiert – deshalb klappt der Umstieg auch nicht reibungslos. Nehmen wir nur das Beispiel der Ladeinfrastruktur, da fehlt es doch noch an allen Ecken."

Klappt es denn mit den Impulsen zur Umqualifizierung?

"Bei der Nachqualifizierung der Beschäftigten duckt sich die Politik ebenfalls weg. An diesem Punkt muss aber auch die Industrie mehr tun."

Sie warnen vor einer weiteren Privatisierung von Krankenhäusern. Warum ist das der falsche Weg?

"Die Politik verfolgt mit der Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur einen fatalen Trend. Wir dürfen lebenswichtige Einrichtungen wie Krankenhäuser, die Energieversorgung oder die Wasserbetriebe nicht privatisieren, das sind klassische staatliche Aufgaben. Krankenhäuser sind ja dazu da, Menschen gesundzumachen und nicht dafür, möglichst hohe Profite zu erwirtschaften. Das kann doch nicht sein."

Die Pandemie hat gravierende Personalprobleme in diesem Bereich sichtbar gemacht.

"Ja, wir haben zu wenig Pflegekräfte und für die vorhandenen ist die Arbeitsbelastung zu hoch. Wir brauchen dringend eine bessere Bezahlung und mehr Fachpersonal. Insgesamt muss jetzt schnellstens ein Umdenken im Gesundheitswesen stattfinden."

Der aktuelle Arbeitsmarkt in Bayern ist gut aufgestellt. Fachkräftemangel und geringe Arbeitslosigkeit sind die Stichworte. Was hat der DGB da zu meckern?

"Wir schauen genauer hin und sehen, dass nicht alles schön und glorreich ist. Die Arbeitslosenquote ist in der Tat gering, aber zu welchem Preis? Das haben wir uns in Bayern durch einen gewaltigen Niedriglohnsektor und viel prekäre Beschäftigung erkauft. Hohe Zahlen in diesem Bereich gibt es zwar auch in anderen Bundesländern, aber in Bayern spitzt sich das besonders zu. Bei uns sind die Lebenshaltungskosten ausgesprochen hoch. Allen voran die Mieten in Großstädten wie München, Würzburg, Nürnberg oder Ingolstadt können sich Normalverdienende oder prekär Beschäftigte oft gar nicht mehr leisten."

Wenn der Arbeitgeberverband in Bayern auf die Landesregierung mehr Einfluss hat als der DGB, wie Sie beklagen, liegt das dann nicht an den Gewerkschaften?

"Vermutlich eher an der Bayerischen Staatsregierung: Dort sucht man stärker den Dialog mit den Arbeitgeberverbänden als mit dem DGB. Die Landespolitik ist zu ‚arbeitgeberlastig‘. Wir bieten den Dialog an, aber außer schönen Terminen passiert da nichts. In ihrer konkreten Politik bedient die Landesregierung vor allem die Interessen der Arbeitgeberverbände."

Sind die Gewerkschaften zu schwach?

"Beim hauptamtlichen Personal können wir nicht mithalten. Unser Pfund sind unsere Mitglieder. Wir machen Politik für die Menschen, für die Beschäftigten und nicht für das Kapital. Und im Übrigen sind die bayerischen Arbeitgeberverbände ganz vorne mit dabei, wenn es um Parteispenden geht. Da können und wollen wir nicht mithalten."

Schont der DGB die bayerische Staatsregierung?

"Vielleicht waren wir zu brav und zu leise, das kann schon sein. Das will ich ändern. Ich möchte dem DGB eine neue Rolle geben: Wir müssen klipp und klar sagen, was nicht gut im Sinne der Menschen in Bayern läuft. Natürlich schließt das auch Vorschläge ein, was man besser machen kann."

Braucht es neue Arbeitsformate?

"In der direkten Betriebspolitik sind die Einzelgewerkschaften schon gut unterwegs. Da mobilisieren wir für den Erhalt von Arbeitsplätzen oder Standorten. Die Menschen sind auch bereit, für den Erhalt der Arbeitsplätze zu kämpfen. Und ja, wir probieren auch Neues aus. So suchen wir das Bündnis mit Künstlern für eine bayerisches Tariftreue- und Vergabegesetz. Bayern und Sachsen sind ja die einzigen Bundesländer, in denen Tarifverträge keine Rolle bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen spielen. Damit können Anbieter Betriebe, die tarifgebundene Löhne zahlen und keine prekären Beschäftigungsverhältnisse anbieten, problemlos durch ihre Dumpingangebote ausstechen. Das muss sich dringend ändern."

Insgesamt übt der DGB Kritik an der aktuellen Wirtschaftspolitik, weil der Wirtschaftsminister, ihrer Einschätzung nach, seinen Job nicht gut macht.

"Ja, das stimmt. Im Kern geht es um ein anderes Verständnis von Wirtschaftspolitik. Wir erwarten mehr als nur Feuerwehreinsätze, wenn das Haus schon lichterloh brennt. Notwendig ist aktives Engagement, und zwar bereits im Vorfeld, wenn die ersten Krisensymptome erkennbar sind. Die frühzeitigen Hilferufe der Gewerkschaften bleiben zu oft ungehört. Im Wirtschaftsministerium haben die beschwichtigten Einflüsterungen der Arbeitgeberverbände Konjunktur. Erst wenn Firmen kurz vor der Insolvenz stehen oder zum Verkauf anstehen, wacht das Ministerium auf. Aber dann ist es oft schon zu spät. Die Bayerische Staatsregierung sollte einfach stärker auf die Betriebs- und Personalräte hören."

Liegt es vielleicht am grundsätzlich anderen Verständnis davon, wofür ein Wirtschaftsministerium eigentlich da ist?

"Das Wirtschaftsministerium glaubt offenbar, man sei dort nur für die Arbeitgeber die Anlaufadresse. Dabei sind diese ja nur ein Teil der Wirtschaft. Auch die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften müssen eine zentrale Rolle spielen. Und vor allem muss der Wirtschaftsminister strategisch nach vorne denken und Visionen entwickeln. Welche Impulse, Rahmenbedingungen und Gestaltungsfelder braucht das Land Bayern? Genau diese wichtige Rolle als Vordenker, der strategische Zukunftslinien erarbeitet, die nimmt das Ministerium nicht wahr. Das ist ausgesprochen schade, ja geradezu fahrlässig."

Geht das auch etwas konkreter?

"Die Staatsregierung müsste jetzt kräftig investieren in erneuerbare Energien, in die digitale Infrastruktur, in Bildung und die soziale Daseinsvorsorge. Das geht einfacher, wenn die Schuldenbremse aus der bayerischen Verfassung gestrichen wird. Dafür setzen wir uns ein."

Sie sagen: Ich will ein unbequemer DGB-Vorsitzender in Bayern sein. Woran werden wir das merken?

"Ich habe mir vorgenommen, die Probleme klar zu benennen. Einfach nur durchwursteln oder lavieren ist nicht mein Ding. Ich werde darauf achten, dass die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht unter die Räder kommen. Im Moment stehen sie jedenfalls nicht im Mittelpunkt der Politik und das will ich ändern. Nehmen wir aktuell die steigenden Energiepreise: Hier darf es nicht nur um die Interessen der Wirtschaft nach einer Entlastung gehen. Es gibt viele Menschen, die sich das Heizen nicht mehr leisten können. Diesen Menschen will ich eine Stimme geben, das ist meine Aufgabe als DGB-Chef."

Wer ist Bernhard Stiedl?

Bernhard Stiedl, 51, ist seit Ende Januar neuer bayerischer DGB-Chef. Stiedl trat damit die Nachfolge des im Juni 2021 verstorbenen Matthias Jena an. Stiedl war seit 2018 IG Metall-Chef in Ingolstadt. Der gebürtige Deggendorfer hat von Jugend an im DGB, der Dachorganisation der Gewerkschaften, mitgearbeitet, zuletzt als Vorsitzender des DGB-Stadtverbandes Ingolstadt. Stiedl ist verheiratet und hat ein Kind.