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Bayerische Schulen in der Krise: Tausende Lehrer fehlen - Quereinsteiger werden


Autor: Klaus Heimann

Deutschland, Dienstag, 04. Juni 2024

Deutschland kämpft mit Lehrermangel: Quereinsteiger sollen Abhilfe schaffen, besonders in Bayern. Wer wird gesucht und wie läuft die Nachqualifizierung?
Es mangelt an Lehrkräften in deutschen Schulen - auch in Bayern.


Lehrermangel in Deutschland wird durch Quer- und Seiteneinsteiger bekämpft. Alle 16 Bundesländer haben Schwierigkeiten, Lehrerstellen zu besetzen, besonders in MINT-Fächern. Quereinsteiger machen bereits fast 10 % der Neueinstellungen aus. In Bayern fehlen laut dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) 4.000 Lehrer. Um dem entgegenzuwirken, werden akademische Quereinsteiger eingestellt und Hilfskräfte nachqualifiziert. Trotz der Maßnahmen bleibt der Lehrermangel ein ernstes Problem.

Lehrkräfte-Notstand: Dramatische Lage in ganz Deutschland

Prof. Klaus Klemm, Bildungsforscher aus Essen, hat im Auftrag der Deutschen-Telekom-Stiftung den Mangel an MINT-Lehrkräften (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) untersucht. Das Thema Lehrkräftemangel begleitet ihn schon seit 1974. Aber so dramatisch wie jetzt war die Situation noch nie, sagt er im Gespräch mit der Wirtschaftszeitung aktiv.

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"Heute haben wir in allen 16 Bundesländern riesige Schwierigkeiten, Lehrerstellen zu besetzen, vor allem an Grund- und Berufsschulen. Besonders groß ist der Mangel aber in den MINT-Fächern an den weiterführenden Schulen." In NRW zum Beispiel hätten zuletzt im Schnitt 15 Leute pro Jahr einen Abschluss für das Lehramt im Fach Informatik gemacht, erläuterte er dem Wirtschaftsmagazin. In den anderen Bundesländern sei die Lage ähnlich mau.

Also ein hausgemachtes Problem? Ja, sagt Klemm. "An der Uni Leipzig brauchte man 2021 einen Abi-Schnitt von 1,3, um Bio auf Lehramt studieren zu dürfen. Das ist doch Wahnsinn." Der Quereinstieg ist in allen Bundesländern auf einmal die Lösung. Heute machen Quereinsteiger*innen schon fast 10 % der Neueinstellungen an Schulen aus. "Diese Menschen haben zum Beispiel Englisch studiert, aber keine Erziehungswissenschaft, und holen ihr Referendariat nach. Wir wissen, dass ihr Unterricht nicht schlechter ist als der von 'studierten' Lehrern", erläutert Klemm. 

Tausende Lehrkräfte fehlen in Bayern

Im Interview mit inFranken hat sich Simone Fleischmann, die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) den Notstand an den Schulen in Bayern mit drastischen Worten beschrieben. Bereits im Mai letzten Jahres beschrieb sie die Lage so: "Das geht doch so weit, dass Schulleiter*innen sich irgendwelche Menschen mit dem 'Lasso' fangen, damit überhaupt jemand vor der Klasse steht. Überall im Land geht es darum, die Löcher im System mit Nicht-Pädagogen zu stopfen. Ich gehe so weit zu sagen, dass der Lehrkräftemangel kaschiert wird, und das systematisch." Eine konkrete Zahl, wie viele Lehrkräfte in Bayern fehlen, wollte Fleischmann damals nicht nennen.

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Das ist jetzt anders. "Zum Schuljahresstart im September 2022 hatten wir in Bayern 4.000 fehlende Lehrerinnen und Lehrer, wie es der BLLV ermittelt hat", erklärte sie dem Fachportal news4teachers. Diese Zahl konnte das Kultusministerium nicht bestätigen, aber auch nicht dementieren. Bundesweit liegt der Fehlbedarf an Pädagoginnen und Pädagogen bis 2035 bei 85.000, wie Prof. Klaus Klemm für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) ermittelte. Die Lehrkräftebedarfsprognose für Bayern bestätigt, dass es beträchtlich Lücken gibt.

Fleischmann sieht allerdings die Zahlen zum Lehrkräfte-Notstand kritisch: "Die Zahlenschlacht, die mitunter betrieben wird, ist müßig. Fakt ist: Wir in den Schulen merken, dass wir den Kindern in ihrem Bildungsanspruch und in ihrem Erziehungsanspruch nicht mehr gerecht werden – und das ist die eigentliche Benchmark." Bayerns Ex-Kultusminister Michael Piazolo von den Freien Wählern zeichnet hingegen ein positives Bild von der Situation an den bayerischen Schulen. "Es gab noch nie so viele Lehrkräfte wie jetzt", so der Ex-Kultusminister bei BR24live. Offensichtlich setzt die Bildungspolitik in Bayern das fort, was VBE-Präsident Udo Beckmann vehement kritisiert, nämlich dass sich die Politik den tatsächlichen Lehrkräftebedarf schönrechnet.

Notprogramm I: Akademische Quereinsteiger haben jetzt eine Chance

Obwohl die Lage, nach Auffassung des Kultusministers, in Bayern keineswegs dramatisch ist, setzt er trotzdem auf den Quereinstieg, und zwar gleich zweifach. Die erste Gruppe findet sich im Programm der Sondermaßnahme 6 wieder. Hierbei handelt es sich um Diplom- oder Masterabsolvent*innen (Gesamtnote mindestens 3,5), die freiwillig ein zweijähriges Referendariat mit Zusatzangeboten durchlaufen. Gedacht sind diese Bewerberinnen und Bewerber für das Lehramt an bayerischen Mittelschulen, Förderschulen (Sonderpädagogik), Realschule, Gymnasium und berufliche Schule. Sie haben meistens viele Jahre Erfahrung in einem anderen Beruf gesammelt und eine akademische Ausbildung. Sie sind lebensälter und wollen sich trotzdem auf eine pädagogische Ausbildung mit mäßigen Anwärterbezügen einlassen. Ein Praktikum in der Schule im Vorfeld der Sondermaßnahme soll einen Einblick geben und die getroffene Entscheidung überprüfen.

Was den Hochschulabsolventen fehlt, ist ein pädagogisches Studium. Das holen sie mit einem zweijährigen Crashkurs (Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik, Psychologie) im Referendariat nach. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser Gruppe zeigen dem BLLV, dass es sich hier in der Regel um sehr motivierte Bewerberinnen und Bewerber handelt, die durch ihre Lebens- und Berufserfahrung das fehlende pädagogische Studium ausgleichen können. Der Verband erwartete für das Schuljahr 2023/24 ca. 330 Bewerbungen. Das sind mehr als in den vergangenen zwei Jahren, seit es die Möglichkeit zum Quereinstieg gibt. Für die Grundschule gibt es diese Maßnahme nicht. Neu ist in Bayern: An Mittel- und Berufsschulen können sich künftig auch Fachhochschulabsolventen mit Masterabschluss zur Lehrkraft ausbilden lassen.

Gerd Nitschke, Vizepräsident des BLLV begrüßt dieses Programm: "Wer sich das antut, der macht dies aus Überzeugung. Und solche Kolleginnen und Kollegen benötigen wir dringend in der Mittelschule." Denn klar ist: Neben der Zeit und dem Lernaufwand verzichten die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen auf viel Geld. Während des Referendariats bekommen sie nur Anwärterbezüge. Die belaufen sich auf rund 1.600 Euro Netto bei einer verheirateten Person mit zwei Kindern. Bei Alleinstehenden sind es rund 100 Euro weniger. Die über den verpflichtenden Unterrichtseinsatz im Rahmen der Ausbildung hinausgehenden Wochenstunden sind je nach Schulart zusätzlich zu vergüten.

Not-Programm II: Hilfskräfte bekommen ihre Chance

Bei dem zweiten Programm geht es um Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger, deren befristeter Arbeitsvertrag entfristet werden soll. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Diplom- oder Masterabsolvent*innen, die sich bereits in der Schule im Einsatz als Substitutionskräfte, Aushilfskräfte oder Teamlehrkräfte bewährt haben. Nach einer zweijährigen Bewährungszeit und einer pädagogischen "Notausbildung" in Form von drei Präsenzveranstaltungen, zwei Onlineveranstaltungen und 14-tägigen Videocoachings wird der Arbeitsvertrag entfristet und sie können in die Tätigkeit einer Lehrkraft ohne volle Lehrbefähigung wechseln.

In einem anschließenden Traineeprogramm, dessen Rahmenbedingungen noch nicht feststehen, können besonders bewährte entfristete Kräfte dann auch die Lehrbefähigung erwerben und damit den vollen Rang einer Mittelschullehrkraft erhalten.

Im Moment seien diese Kolleginnen und Kollegen im Amtsdeutsch: Aushilfsnehmende in unterrichtlichen Tätigkeiten. "Lehrkraft an Mittelschulen darf man auf diesem Wege nicht werden", sagt Gerd Nitschke. Von einer pädagogischen Qualifikation könne man nicht sprechen. Für das nächste Schuljahr 2023/24 erwartet der BLLV 52 Bewerbungen bayernweit, mit dem Antrag auf eine Entfristung.

Sind kranke und ausgebrannte Lehrkräfte die Lösung?

Der erste Schritt, um ein Problem zu lösen, ist eine schonungslose, ehrliche Bestandsaufnahme und eine Strategie. Genau daran mangelt es aber. Ministerpräsident Markus Söder verkündete lauthals, er will bundesweit für 6.000 neue Lehrkräfte sorgen. Ex-Kultusminister Michael Piazolo sprach lange Zeit nur von vereinzelten Vakanzen.

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Dass es aber in Wirklichkeit ein massives Problem bei den Lehrkräften gibt, zeigen die zwei Quereinstiegs-Programme, die bessere Bezahlung von Grund- und Mittelschullehrkräften oder die Werbemaßnahmen für Personal aus anderen Bundesländern.

Gleichzeitig zieht die Schulbürokratie durch Notmaßnahmen die Spielräume für Pädagoginnen und Pädagogen noch enger: Für vorhandene Lehrkräfte gibt es Arbeitszeitkonten, die mehr Kontrolle ermöglichen. Teilzeitmodelle gibt es nur noch im Ausnahmefall oder sie entfallen komplett. Und die Altersgrenze für den Ausstieg aus dem Lehrendenberuf steigt. Ergebnis: Die Notmaßnahmen gegen den Lehrkräftemangel sind absolut kontraproduktiv. BLVV-Mann Gerd Nitschke, stellt klar: "Wir gewinnen nicht mehr Stunden, sondern kranke und ausgebrannte Lehrkräfte."