Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Wenn Eltern Krankheiten ihrer Kinder erfinden
Autor: Evelyn Isaak
Deutschland, Freitag, 26. August 2022
Erfinden Eltern Symptome ihrer Kinder oder machen sie absichtlich krank, könnte das seltene Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom dahinter stecken.
- Fallbeispiel: Filiz Erfurt
- Medizinische Einordnung
- Merkmale
- Hinweise und gerichtliche Urteile
- Fazit
Wer zum ersten Mal von dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hört, ist häufig zunächst geschockt und kann nicht glauben, dass Eltern ihren Kindern so etwas antun. Wichtig ist, möglichst objektiv an die Thematik heranzugehen; denn es handelt sich um eine komplexe psychische Erkrankung, die sehr ernst zu nehmen ist und vor allem auch für die Kinder nachhaltige psychische und physische Folgen nach sich ziehen kann.
Fallbeispiel: Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Was genau hinter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom steckt, lässt sich am besten an einem Fallbeispiel erklären. Eine unglaubliche Geschichte ist die einer Frau namens Filiz Erfurt, über die 2021 der "Spiegel" berichtete. Sie ist die Mutter von drei Söhnen, welche im Erwachsenenalter von ihrer Geschichte erzählen und feststellen müssen, dass ihre Mutter entgegen ihrer damaligen Annahme nicht immer nur das Beste für sie wollte, sondern sie mit Absicht krank gemacht hatte. Im Kindesalter redete die Mutter ihren Söhnen ein, schwerstbehindert zu sein. Vor Ärzt*innen gab sie Symptome vor, die ihre Söhne nicht hatten; so saß der jüngste Sohn sogar in einem Rollstuhl, obwohl er vollkommen gesund war.
Medizinische Unterlagen diverser Ärzt*innen berichten von einer langen Krankheitsgeschichte der Kinder, welche eigentlich nichts hatten. Regelmäßig kam das Versorgungsamt bei ihnen zu Hause vorbei, um zu prüfen, ob die Kinder tatsächlich schwerstbehindert seien. Doch bereits vor einem Besuch habe die Mutter ihren Söhnen immer genau gesagt, wie sie sich zu verhalten hatten. In dem Glauben, die Mutter wolle nur das Beste für sie, taten die Jungs, was ihnen gesagt wurde.
Irgendwann wurden die Ärzt*innen misstrauisch und alarmierten das Jugendamt. Nach einer medizinischen Untersuchung der älteren beiden Söhne konnte festgestellt werden, dass die Mutter ihnen von verschreibungspflichtigen Medikamenten teilweise die bis zu fünffache Dosis verabreicht hatte. Darunter befanden sich unter anderem Beruhigungsmittel. Es wurde aufgedeckt: Nicht die Söhne waren krank, sondern die Mutter. Diagnose: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Seinen Ursprung habe dieses vermutlich in einer Art Selbstablehnung: Während die Mutter unterbewusst ihr eigenes Selbst schädigen möchte, tut sie dies stellvertretend an ihrem Kind. Daher komme auch der Name Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Die Mutter leide folglich an einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer sie ihre eigenen Kinder absichtlich krank macht, darin aber kein Fehlverhalten erkennen kann. Der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Lob dafür, wie gut sie ihre Kinder pflegt, stünde bei Filiz vermutlich im Vordergrund. Heute haben die Söhne nach der schweren Geschichte jeglichen Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen.
Wissenswertes rund um das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wird auch Münchhausen-by-proxy-Syndrom (MBPS) genannt. Mit dem Syndrom befasste sich zum ersten Mal Richard Asher im Jahr 1951. In der ICD-11 wird das MBPS als Diagnose aufgeführt. Unter dem Code 6D51 wird das MBPS im medizinischen Sinne als artifizielle Störung charakterisiert. Als typische Merkmale werden das Vortäuschen und Erzeugen von Symptomen bei Dritten genannt, woraus psychische und physische Probleme für das Opfer folgen. Während sich Menschen mit einem Münchhausen-Syndrom selbst Schaden zufügen, wird bei dem MBPS einem anderen Menschen, quasi "stellvertretend", absichtlich geschadet. Somit wird das MBPS häufig als eine Erweiterung des Münchhausen-Syndroms bezeichnet.
Buchtipp: 'Proxy - dunkle Seite der Mütterlichkeit' - hier ansehenBei den Fällen, die bekannt werden, handelt sich beinahe ausschließlich um Mütter, es können jedoch auch alle anderen Bezugspersonen sein, die die seltene Erkrankung haben. Verlässliche Zahlen liegen nicht vor, geschätzt wird hingegen, dass etwa 0,4 bis 2 von 100.000 Kindern als Opfer betroffen sind. Das durchschnittliche Alter der Kinder liegt, ebenfalls geschätzt, bei etwa 3,5 Jahren. Aufgrund des MBPS entwickeln die Mütter das Verhalten, ihre eigenen Kinder krankzumachen, absichtlich zu verletzen und/oder für bestimmte Ziele zu benutzen. Im schlimmsten Fall kann es sogar passieren, dass das Kind an den Folgen der "Behandlungen" stirbt. Vor Ärzt*innen agieren die Mütter meist sehr sorgend und manipulativ: Es kann vorkommen, dass die Mütter bei einer ärztlichen Untersuchung bereits eine Verdachtsdiagnose mitbringen und Untersuchungsmethoden vorschlagen.