Druckartikel: Scheidung nach 50 Jahren - oder geht's noch?

Scheidung nach 50 Jahren - oder geht's noch?


Autor: Irmtraud Fenn-Nebel

Coburg, Freitag, 18. Januar 2013

Jahrzehntelang haben sie es miteinander ausgehalten, Kränkungen und Enttäuschungen ertragen. Dann ist das Maß plötzlich voll, und 70-jährige Paare wollen sich trennen. Gibt es eine Lösung?
Bild: Imago /Grafik: Michael Karg


Er , Ende 70, sagt: Sie kauft immer die Wurst, die ich nicht mag. Sie, Mitte 70, sagt: Und er versteckt immer mein Gebiss, wenn ich zum Seniorennachmittag gehen will. Was ein Außenstehender zunächst lustig finden könnte, ist für die Beteiligten bitterer Ernst. Über Jahrzehnte hinweg schwelen in ihrer Partnerschaft Konflikte, die nie aufgelöst wurden. Und dann, durchaus auch mit Ende 70, zieht einer die Reißleine - und reicht die Scheidung ein. Schluss nach 50 Jahren Ehe. Warum jetzt, warum so spät?

Experte für die Medien
"Irgendwann ist das Maß einfach voll", sagt Michael Vogt. Er ist Pädagoge, Sozialarbeiter und Eheberater und arbeitet seit fünf Jahren als Professor an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Coburg.

Dort leitet er unter anderem das Begleitstudium "Person- und emotionsfokussierte Beratung" und bildet Paartherapeuten aus. Mit der Thematik Trennung im Alter befasst sich Vogt seit fast 20 Jahren. Er hat empirisch dazu geforscht, Studien veröffentlicht, Bücher darüber geschrieben und wird oft als Experte vom Radio oder Fernsehen eingeladen.

Nach Vogts Beobachtungen ist zu den beiden "Scheidungsgipfeln" nach dem vierten und dem 25. Ehejahr in den vergangenen Jahren ein weiterer hinzugekommen: Immer mehr Paare trennen sich nach ihrer goldenen Hochzeit. "Die Menschen haben das Gefühl, die Gemeinschaft bringt nichts mehr", weiß Vogt.

Meist seien es Frauen, die eine Scheidung in Betracht ziehen. Sie haben eine höhere Lebenserwartung als Männer und wollen die unglückliche Beziehung nicht länger aushalten. Allerdings: "Jemand mit 70 sagt nicht spontan, ich habe keine Lust mehr", sagt Vogt.

"Einer solchen Entscheidung sind viele Kränkungen vorausgegangen. Eine Trennung zieht man nur durch, wenn man keine Zukunftserwartung mehr hat." Geschichtlich betrachtet birgt die heutige Zeit erstmals die Option, dass Menschen eine lebenslange Ehe führen könnten: Kein Krieg oder andere widrige Umstände, die Paare vom Zusammensein abhalten. "Die Hoffnung, mit einem exklusiven Partner alt zu werden, ist unausrottbar", sagt Vogt. Wenn da nicht ein Haken an der Sache wäre - und sich der Zauber der Liebe irgendwann verflüchtigt.

Unterdrückte Konflikte...
Und das passiert schnell. "Beziehungskonten werden von manchen Partnern fiskalisch überwacht", zieht Vogt einen Vergleich. Wenn dort ein Ungleichgewicht herrscht und einer ständig mehr zu investieren glaubt als der andere - schwierig.

Vogt weiß aus seiner langjährigen Beratungstätigkeit, dass in vielen Beziehungen Konflikte latent unterdrückt werden. Auch die mangelnde Kommunikation führt zu Spannungen, wie empirische Forschungen zeigen. "Irgendwann stellt man keine Fragen mehr, weil man denkt, die Antwort sowieso zu kennen", sagt Vogt. "Man spricht auch nicht mehr über sich selbst, die eigenen Erwartungen und Gefühle."

Eine besondere Zäsur in einer Partnerschaft bedeuten der Auszug der Kinder und noch mehr das Berufsende. Plötzlich ist das Paar 24 Stunden lang zusammen, da entstünden ungleiche Wünsche nach Nähe und Distanz. "Das muss verhandelt werden", sagt Vogt. Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Thema körperliche Nähe, das sich über die Jahre vielleicht schon zum Problem ausgeweitet hat. "Es muss nicht zwingend Sexualität sein", sagt Vogt.

"Aber das Wunsch nach Liebkosung besteht bis ans Lebensende. Auch darüber muss man reden."

... und Hoffnung auf bessere Zeiten
Warum Paare trotz aller Enttäuschungen länger als eigentlich gewollt oder auch für immer zusammenbleiben, hat für Vogt mehrere Gründe. "Sicherheit ist ein wesentlicher Aspekt und die Hoffnung, dass es besser wird. Die Leidensfähigkeit in der Hoffnung ist vor allem bei älteren Menschen relativ stark." Was bei ihnen erschwerend hinzukommt, ist die wirtschaftliche Lage. Meistens war der Mann der Alleinverdiener, während sich die Frau um Familie und Haus gekümmert hat. Mit nur einer, vielleicht kleinen Rente, lässt sich eine Scheidung schwer bewerkstelligen.

Zündstoff bringt übrigens auch die Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit eines Partners mit sich. Dann muss der andere plötzlich Verantwortung übernehmen.

"Das ist ein innerer Abwägungsprozess", sagt Vogt. "Wer sich dafür entscheidet, dem anderen beizustehen, muss gleichzeitig darauf achten, dass er noch Achtung und Zeit für sich selbst findet. Man muss Grenzen setzen und vielleicht externe Hilfe holen."

Wo ist der Zauber hin?
Weil Vogt generell Paaren lieber dabei hilft, ihre Konflikte zu lösen und vielleicht doch einen anderen Weg als eine Trennung zu finden, hat er einen beziehungsorientierten Ansatz für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung entwickelt. Eine seiner Kernfragen an Paare, die schon 40, 50 Jahre zusammen sind und sich nicht mehr so richtig leiden können, lautet: Was war der Zauber des Beginns? Was hat sie damals am Partner angesprochen?

Vogt rät den Paaren zum Beispiel, Fotografien von früher anzuschauen, den gemeinsamen Lebensweg zu betrachten.

Das könnte ein Schritt sein, um sich wieder näher zu kommen. Auch Unternehmungen helfen dabei, miteinander im Gespräch zu bleiben. Nicht nur gemeinsame, auch getrennte Verabredungen: Dann kann jeder dem anderen vom Erlebten erzählen. Was Vogt außerdem empfiehlt: Einmal pro Woche einen Verwöhntag einlegen.

Viele Paare kommen erst im vorgerückten Alter in die Beratung - meist auf Initiative der Frauen, die mit dem Thema bewusster umgehen. "Zu den Männer sage ich, sie sollen es als Beziehungstankstelle betrachten" sagt Vogt und lacht. "Damit können sie 'was anfangen". Würden sich die Paare schon früher beraten lassen, hätte Vogt einen guten Tipp: Rechtzeitig anfangen mit einer Analyse des Beziehungs-Zustands. Immer wieder eine Zäsur machen; fragen, wo stehen wir, wo wollen wir hin? Das wäre eine gute Basis fürs Alter. "Leben, nicht sich leben lassen," lautet Vogts Devise.

 


Der Trugschluss vom Glück in neuen Beziehungen
Er glaubt, dass sich in Zukunft noch mehr Menschen im höheren Alter trennen werden. Die beruflich erforderte Mobilität, Fernbeziehungen, das Internet: Es gibt unzählige Optionen, sich mit anderen Partnern zu beschäftigen und immer wieder neu nach dem Glück zu suchen. Doch Vogt bremst die Erwartungen: "Die Hoffnung auf mehr Glück wird sich in einer zweiten, dritten Beziehung nicht erfüllen."



Beispiele aus der Beratung von Michael Vogt

Gefährliches Machtverhältnis

Einmal haben sich bei Prof. Michael Vogt die Kinder eines 73 und 75 Jahre alten Ehepaars gemeldet. Die Eltern, 55 Jahre verheiratet, stritten ständig lautstark miteinander, hatten keine Wertschätzung mehr füreinander.

 

Ein paar Jahre zuvor hatte der Vater außereheliche Beziehungen, in der Ehe kam es zu Gewalt. Als der Vater einen Schlaganfall bekam, kippte das Machtverhältnis. Die Kinder hatten Angst, dass die Mutter den Vater nicht gut pflegen würde. Die Heilung ihrer Wunden würde länger brauchen als die Pflege des Mannes andauern würde. Das Paar trennte sich, der Vater kam ins Pflegeheim.

Sexuelle Probleme mit 80

Ein Paar, beide Mitte 80, kam zur Vogt in die Beratung, weil es sexuelle Probleme hatte. Die beiden waren noch mobil, unternahmen Reisen. Der Mann wollte mehr Intimität als die Frau, die eine gynäkologische Erkrankung hatte. In der Beratung wurde das Thema so aufgegriffen, dass das Paar erfuhr, wie und wo es sich Hilfe holen kann. Dadurch hat sich die Intimität erhöht, die Kommunikation wurde verbessert.

Für ihre intimen Begegnungen griffen die Eheleute auf Hilfsmittel zurück.

Sie fühlte sich wie eine lebendige Witwe

Eine Frau wandte sich an die Beratung, weil ihr Ehemann an Alzheimer erkrankt war. Ihr Umfeld zog sich zurück, die Frau fühlte sich einsam. Sie war in ihren Gefühlen gespalten, fühlte sich wie eine lebendige Witwe. Vogt war klar: Die Frau muss auftanken, sich als Person fühlen und gleichzeitig den Abschiedsprozess von der Partnerschaft gestalten. Sie hat sich Hilfe geholt und den Mann im eigenen Haus versorgt, einen freien Tag pro Woche eingerichtet, wieder Besuch empfangen. So konnte sie ihren Mann noch zwei Jahre bei sich halten, bevor er ins Pflegeheim kam.


Hier gibt es Hilfe

Die Paar- und Eheberatung wird nicht öffentlich finanziert, sie muss von den Ratsuchenden selbst bezahlt werden.

Eheberatung bieten

die katholische und die evangelische Kirche an, außerdem Pro Familia sowie die Katholische Bundeskonferenz für Ehe-, Familien- und Lebensberatung, kurz KBKEFL.