Im konkret vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verhandelten Fall kam es auf einer Kreuzung zu einem Crash zwischen einem Rettungswagen und einem Pkw. Das Urteil überraschte: Die Schuld wurde hälftig aufgeteilt. Laut Meinung des Richters hätten beide Fahrer aufmerksamer sein müssen (OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 20.11.2023, Aktenzeichen: 17 U 121/23).
3. Rückwärtsfahren in Einbahnstraßen - erlaubt oder verboten?
Darf man in einer Einbahnstraße rückwärtsfahren? Ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs besagt, Rückwärtsfahren ist in zwei Fällen erlaubt:
- wenn eingeparkt wird,
- wenn ein Auto rückwärts aus einer Grundstücksausfahrt in die Straße einfährt.
Autofahrer, die aus anderen als diesen Gründen in einer Einbahnstraße rückwärtsfahren, verstoßen somit gegen geltendes Verkehrsrecht (BGH, Urteil vom 10.10.2023, Aktenzeichen: VI ZR 287/22).
4. Warnblinker am Stauende - Pflicht oder nicht?
Vor dem Landgericht Hagen wurde im Jahr 2022 ein Fall verhandelt, der sich der Frage widmete, ob ein Warnblinker am Stauende zwingend eingeschaltet werden muss oder nicht. Im konkreten Fall fuhr ein Lada-Fahrer auf einen Lkw auf, als der Lkw-Fahrer wegen eines Staus langsam abbremste, aber keinen Warnblinker einschaltete.
Der Autofahrer sah die Schuld beim Lkw-Fahrer.
Das Gericht war anderer Meinung. Es entschied, der Pkw-Fahrer hätte damit rechnen müssen, plötzlich abzubremsen. Eine Pflicht, den Warnblinker einzuschalten, hätte für den Lkw-Fahrer nur dann bestanden, wenn sich wegen des Staus eine konkrete Gefahr für den nachfolgenden Verkehr ergeben hätte. Da dies laut Gericht nicht der Fall war, wurde der Lkw-Fahrer freigesprochen (LG Hagen, Urteil vom 31.5.2023, Aktenzeichen: 1 O 44/22).
5. Wer darf beim Abbiegen die Spur frei wählen - Rechtsabbieger oder Linksabbieger?
Wer rechts abbiegt, hat Vorrang vor einem Linksabbieger. Dieser Vorrang gilt auch für die Wahl der Fahrspur, falls es mehrere gibt. Das Oberlandesgericht Saarbrücken sah daher die überwiegende Schuld für einen Crash zweier Fahrzeuge auf einer Kreuzung beim Linksabbieger.
Als Linksabbieger dürfe man nicht vorschnell auf die linke Spur abbiegen und einfach darauf vertrauen, dass sich der andere Fahrer rechts halte (OLG Saarbrücken, Urteil vom 20.10.2023, Aktenzeichen: 3 U 49/23).
6. Auto fährt rückwärts - reicht Hupen aus, um auf sich aufmerksam zu machen?
Im konkreten Fall fuhr ein Peugeot-Fahrer durch eine verkehrsberuhigte Straße. Er sah, dass ein Mercedes rückwärts aus einer Garageneinfahrt auf die Straße fuhr. Statt anzuhalten, hupte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Da der Mercedes-Fahrer dennoch weiter rückwärts fuhr, kam es zu einem Zusammenstoß.
Das Landgericht Saarbrücken sah die Hauptschuld zwar beim Rückwärtsfahrenden, sprach diesem jedoch nicht die alleinige Schuld zu. Der Mercedes-Fahrer musste 80 Prozent Haftung übernehmen, der Peugeot-Fahrer 20 Prozent. Die Richter begründeten die Teilschuld des Peugeot-Fahrers damit, dass er die Situation hätte weiter beobachten und notfalls bremsen müssen (LG Saarbrücken, Urteil vom 20.1.2023, Aktenzeichen: 13 S 60/22).
7. Handy bei der Fahrt woanders hinlegen - darf man das?
Telefonieren am Steuer ist nur mit Freisprecheinrichtung erlaubt. Das Handy darf demnach nicht in der Hand gehalten werden. Aber darf man es während der Fahrt woanders hinlegen? Mit dieser Frage beschäftigte sich das Oberlandesgericht Karlsruhe vergangenes Jahr.
Im konkret verhandelten Fall telefonierte ein Autofahrer über die Freisprechanlage. Während des Telefonierens legte er das Gerät an einen anderen Platz. Das Gericht wertete dies nicht als Handyverstoß und gab der Klage des Mannes gegen den erhaltenen Bußgeldbescheid statt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.4.2023, Aktenzeichen: 1 ORbs 33 Ss 151/23).
Zu sicher sollte man sich dennoch nicht sein, wenn man das Handy während der Fahrt woanders hinlegt. Inwiefern eben doch ein Bußgeld zu zahlen ist, ist stets Ermessenssache.
8. Wildunfall verhindert, dennoch Sachschaden entstanden - wer zahlt?
Das Oberlandesgericht Saarbrücken musste im Jahr 2022 beurteilen, inwiefern eine Versicherung auch dann zahlen muss, wenn ein Schaden am Fahrzeug entstanden ist, um einen Wildunfall zu verhindern. Im konkreten Fall war ein Motorradfahrer gestürzt, als er Rehen ausgewichen war, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
Die Versicherung (Teilkasko) weigerte sich für den Schaden aufzukommen, schließlich habe es keinen Zusammenstoß gegeben. Das Gericht urteilte zugunsten des Versicherungsnehmers.
Das bedeutet: Auch für Schäden, die bei der Vermeidung eines Unfalls entstehen, kann die Versicherung in Anspruch genommen werden (OLG Saarbrücken, Urteil vom 23.11.2022, Aktenzeichen: 5 U 120/22).
9. Mit Verbrenner auf E-Autoparkplatz parken - erlaubt oder nicht?
Das Oberverwaltungsgericht Münster schmetterte im vergangenen Jahr die Klage eines Autofahrers ab, der mit seinem Verbrenner auf einem für Elektro-Fahrzeuge reservierten Parkplatz parkte und abgeschleppt wurde.
Auch wenn er dadurch nicht den Verkehr behinderte, stellte das Falschparken dennoch eine Behinderung der bei diesen Parkplätzen bevorrechtigten E-Autos dar. Das Abschleppen war demnach gerechtfertigt (OVG Münster, Beschluss vom 13.4.2023, Aktenzeichen: 5 A 3180/21).
10. Kleinkind am Steuer - wer haftet?
Ein äußerst ungewöhnlicher Fall wurde vergangenes Jahr am Oberlandesgericht Oldenburg verhandelt. Ein Kleinkind, das von seiner Mutter kurz im Auto zurückgelassen wurde, krabbelte auf den Fahrersitz und startete das Auto. Dabei fuhr es seine Großmutter an, die eineinhalb Meter vom Auto entfernt auf einer Bank saß. Durch den Unfall wurde die Frau an beiden Knien verletzt.
Die Krankenkasse der Großmutter weigerte sich, für die Behandlungskosten aufzukommen und wollte das Geld von der Mutter des Zweieinhalbjährigen zurück. Denn - so der Vorwurf der Krankenkasse - die Mutter habe ihre Aufsichtspflicht verletzt.
Das Oberlandesgericht Oldenburg stimmte der Auffassung der Krankenkasse zu. In der Urteilsbegründung heißt es, Kleinkinder müssten durchgehend beaufsichtigt werden (OLG Oldenburg, Urteil vom 20.4.2023, Aktenzeichen: 14 U 212/22).
11. Darf man an einer grünen Ampel einfach loslaufen?
Zum Schluss möchten wir euch noch ein Urteil präsentieren, das vor allem für Fußgänger relevant ist. Das Landgericht Lübeck beschäftigte sich vergangenes Jahr mit der Frage, ob man bei einer grünen Ampel einfach losgehen darf, ohne auf die Umgebung zu achten. Verhandelt wurde ein Fall, bei dem ein Lkw-Fahrer an einer Ampel eine Fußgängerin überfahren und schwer verletzt hatte.
Der Lkw-Fahrer war noch bei Grün in die Kreuzung eingefahren, aufgrund des stockenden Verkehrs musste er jedoch kurz vor dem Fußgängerüberweg anhalten. In der Zwischenzeit schaltete die Fußgängerampel auf Grün. Die Frau ging los, der Fahrer fuhr im selben Moment weiter.
Das Gericht sah die alleinige Schuld jedoch beim Fahrer. Zwar gaben die Richter bei der Urteilsverkündung an, dass sich die Fußgängerin vor dem Gehen noch hätte vergewissern müssen, dass der Lkw stehen bleibt. Dennoch wurde ihr keine Schuld zugesprochen, da es das Gericht als erwiesen sah, dass in diesem Fall ein solch schweres Verschulden des Lastwagenfahrers vorlag, dass dieser allein haften müsse (LG Lübeck, Urteil vom 29.9.23, Aktenzeichen: 3 O 336/22).