Klassische Lerntheorien waren für Bandura nicht ausreichend und entsprach seinem Menschenbild nicht. Sie seien keine korrekte Erfassung der Komplexität des menschlichen Lernens und reduzieren den Menschen auf die Umweltreize oder die Person. Das Menschenbild sei laut Bandura bei diesen Theorien problematisch, da der Mensch nur ein "Spielball" seiner inneren oder äußeren Einflüsse sei und keinen freien Willen habe.
Der Begriff des reziproken Determinismus
Bandura prägte im Zuge seiner sozial-kognitiven Lerntheorie den Begriff des reziproken Determinismus. Er sah den Menschen als ein Individuum und ein aktives Wesen, welches einerseits auf innere Reize reagiert, andererseits aber auch auf die Umwelt und sein eigenes Verhalten. Diese drei Faktoren stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Dabei müssen laut Bandura auch das individuelle Lernverhalten und die Kompetenz der Person mitbeachtet werden. Das Verhalten, welches ein Mensch an den Tag lege, werde in einer Art Feedbackschleife auf ihn zurückgeführt. Dieser gesamte Prozess wird von dem Psychologen als reziproker Determinismus oder auch als triadische Reziprozität beschrieben.
Die personenbezogenen Faktoren als ein Aspekt des Determinismus beschreiben einerseits Kognitionen und Emotionen, aber auch die biologischen Variablen. Einfach gesagt geht es hier um den "innere Zustand" des Menschen. So würde eine Person, die von der Astronomie begeistert ist, zum Beispiel einen Ausflug in ein Planetarium machen, weil es ihren persönlichen Interessen entspricht. Den zweiten großen Punkt bilden die verhaltensbezogenen Faktoren. Damit sind die eigenen Fähigkeiten und die persönlichen Erfahrungen in Bezug auf eine Situation gemeint. Die Situation selbst wird also mit Kognitionen und Emotionen verbunden. Beispielsweise würde eine Person, die gut kochen kann, folglich auch Freund*innen zu einem Kochabend einladen, da dies mit Emotionen wie Spaß und Freude verbunden ist. Den dritten Einflussfaktor bilden die umweltbezogenen Faktoren. Gemeint sind damit alle äußeren Einflüsse, die sich auf personen- und verhaltensbezogene Faktoren auswirken. Beispielsweise fühlen wir uns meist unwohl, wenn es regnet, und suchen uns Schutz unter einem Regenschirm.
Grundlegend sah Bandura fünf basale Fähigkeiten des menschlichen Handelns. Dazu gehörten die Fähigkeit zur Symbolverwendung, die Fähigkeit zum vorausschauenden Handeln, die Fähigkeit zur Selbstregulation, die Fähigkeit zu stellvertretenden Erfahrungen und die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Zusammengefasst ist damit gemeint, dass der Mensch in der Lage ist, Sprache und andere Gesten zu verwenden und mithilfe derer Ideen zu entwickeln. Das vorausschauende Handeln meint, dass der Mensch potenzielle Ergebnisse des eigenen Handelns abschätzen und in seine Planung einschließend kann. Durch eine kontinuierliche Selbstbeobachtung werde der Mensch fähig, sich selbst und sein Verhalten zu regulieren. Der Aspekt der stellvertretenden Erfahrungen postuliert, dass der Mensch auch durch Beobachtung lernen kann. Es geht darum, andere Menschen als "Modell" zu sehen und durch die Beobachtung von deren Erfahrungen zu lernen. So lernt er schneller und risikoärmer. Durch die Selbstreflexion kann der Mensch sein Verhalten ständig selbst überdenken und es so sozial (im Vergleich mit den Sichtweisen anderer) und logisch (im Vergleich mit dem eigenen Wissen) angleichen.
Das Konzept des Beobachtungslernens
Das Konzept des Beobachtungslernens ist charakteristisch für Banduras Lerntheorie. Für ihn stellte das Beobachten einen Anreiz beziehungsweise eine Verstärkung dar, etwas lernen zu wollen, mit dem man vorher noch keine Erfahrung gemacht hat. Dabei schließt das Beobachtungslernen nicht unbedingt eine aktive Handlung mit ein: Es meint, dass man sich allein durch die Beobachtung etwas aneignen und lernen kann. Dies kann auch als eine enorme Ausweitung der eigenen Lern- und Handlungsmöglichkeiten gesehen werden. Beim Lernen an einem Modell sei eine Multiplikator-Funktion zu erkennen: Ein Modell propagiert ein bestimmtes Verhalten, welches an eine Vielzahl von Zuschauer*innen weitergegeben werden kann. Wie etwa eine Lehrkraft, die 20 Schüler*innen etwas vormacht, wodurch diese es lernen können.
Das Beobachtungslernen wurde auf Basis seines "Bobo Doll Experiments" entwickelt. Sein Interessenschwerpunkt lag darin, zu erfahren, wie Kinder das Verhalten von Erwachsenen lernen. In dem psychologischen Experiment sahen Kinder ein Video, in dem eine Person eine Puppe verprügelt und diese beschimpft. Die erste von drei Gruppen sah das Video, ohne dass eine dritte Person vorkam. Die zweite Gruppe sah, wie das aggressive Verhalten anschließend gelobt wurde. Die dritte Gruppe bekam dasselbe Video mit noch einem anderen Ende zu sehen; hier wurde das gezeigte Verhalten der Person bestraft. Im Anschluss an die Videos wurden die Kinder einzeln in einen Raum mit den gleichen Gegenständen wie diese, die sie im Video gesehen hatten, geführt. Zu beobachten waren unterschiedliche Ausprägungen in der Nachahmung des aggressiven Verhaltens: Diejenigen, die eine Belohnung erwarteten, hatten kaum Hemmungen vor einer aggressiven Verhaltensweise.
Das Konzept des Beobachtungs- oder Modelllernens hat weitreichende Bedeutungen für uns. Einerseits heißt es, dass wir zahlreiche neue Kompetenzen erwerben, indem wir Dinge nur anschauen. Bandura zufolge bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, dass die erworbenen Kompetenzen auch ausgeführt werden. Beispielhaft ist das Anschauen eines YouTube-Tutorials, bei dem wir die neu erworbenen Kompetenzen nicht automatisch auch ausführen. Die Motivation, etwas tatsächlich nachzuahmen, bekommen wir durch Vorbilder. Sehen wir unsere Mutter beispielsweise als vorbildliche Person an, werden wir ihre Handlungen eher imitieren und sogar moralische Werte übernehmen. Vorbilder können also auch soziale Anstöße geben.
Prozesse des Modelllernens der sozial-kognitiven Theorie
Seine Lerntheorie fasst Bandura in einem Modell zusammen. In der ersten Stufe, dem Lernen, wird die Aufmerksamkeit des Individuums erregt. Der Mensch nimmt etwas wahr, wendet sich diesem also aktiv zu. Ob eine Zuwendung stattfindet, hängt unter anderem von dem Modell ab, aber auch, welche Interessen das Individuum hat und was es sich davon verspricht. Außerdem ist die emotionale Beziehung zwischen Modell und Beobachter*in entscheidend. Nachdem das Modell die Aufmerksamkeit des Individuums auf sich gezogen hat, formt dieses das Beobachtete um. Dabei entwickeln sich neue kognitive Strukturen, die es dem Individuum ermöglichen, sich danach daran zu erinnern und Merkmale zu behalten.
In der zweiten Stufe, der Performanz, findet ein Produktions- beziehungsweise Reproduktionsprozess statt. Die beobachtende Person erinnert sich an das Modell und versucht, das als vorteilhaft Empfundene zu wiederholen oder nachzumachen. Wie genau es dem Individuum gelingt, hängt beispielsweise von den motorischen und kognitiven Fähigkeiten ab.
Zuletzt spielen auch Motivation und Verstärkung eine Rolle. Wird das Verhalten gelobt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es das Individuum wiederholt, höher. Wird das Verhalten gestraft, unterbindet das Individuum die Tat sehr wahrscheinlich. Ob Motivation und Verstärkung dabei von extern oder von intern erfolgen, ist nicht relevant.
Für die Pädagogik haben Banduras Erkenntnisse eine große Relevanz. Die Bedeutung von Modellen und Vorbildern wird dabei stark in den Vordergrund gehoben. Im Vergleich mit anderen Modellen stellt er die Komplexität des Menschen und seines Handelns dar. Seine Lerntheorie kann für viele Erklärungsansätze herangezogen werden.