Würzburger Nuklearmediziner: Wir sind stolz auf unsere rund 150 "Tschernobylenkel"
Autor: Natalie Schalk
Würzburg, Sonntag, 24. April 2016
Strahlentherapie als Mittel gegen Krebs. Strahlung als Ursache von Krebs. Die Arbeit des Nuklearmediziners Christoph Reiners ist komplex.
Ende der 1970er Jahre begann Christoph Reiners sich damit zu beschäftigen, wie radioaktive Strahlung auf den menschlichen Körper wirkt. Vor einigen Monaten ging er als Ärztlicher Direktor des Würzburger Uniklinikums in Ruhestand. Onkologie und Strahlentherapie bei Krebs, vor allem die Diagnostik und Therapie bei Schilddrüsenkrebs, ist einer seiner Schwerpunkte. Der Professor ist Mitglied des Krisenstabs der Strahlenschutzkommission der Bundesregierung und diverser internationaler Gremien, die sich mit den Folgen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und den Reaktorunfällen in Fukushima und Tschernobyl beschäftigen. Doch den größten Eindruck in seiner Karriere hinterließen die Kinder. In den 1990er Jahren gründete er den Verein "Medizinische Hilfe für Tschernobylkinder".
Wieso haben Sie den Verein für die Tschernobylkinder gegründet?
Christoph Reiners: Als ich an einem Abend im Mai 1992, ziemlich genau sechs Jahre nach der Katastrophe, nach Hause gehen wollte, begegnete ich vor dem Uniklinikum in Essen - damals war ich in Essen tätig - einer sehr besorgten, gebrochen englisch sprechenden Dame mit einem etwa sechsjährigen Jungen an der Hand. Sie kamen aus Weißrussland, etwa 80 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Der Junge hatte einen dicken Verband um den Hals. Pavel hatte Schilddrüsenkrebs, war drei Mal operiert worden. Es hieß, mehr könne man nicht für ihn tun. Er hätte nach Auskunft seiner Ärzte in Weißrussland noch drei Monate zu leben. Schilddrüsenkrebs war einer meiner Schwerpunkte. Pavel war das erste von 240 Kindern, die wir in ein Programm zur Behandlung dieser Krankheit aufgenommen haben. Wir, das heißt ein damals junger deutsch-russischer Arzt, mit dem ich bis heute zusammen arbeite und ich - und unser "Tschernobylverein", der erfolgreich Spenden sammelte. Obwohl Pavel voller Metastasen war, konnten wir ihm eine gute Zeit lang helfen. Wir wussten aber auch, welche Folgen die Behandlung bei ihm haben könnte. Er ist leider daran gestorben - aber er wurde 22 Jahre alt. An Schilddrüsenkrebs ist keiner der 240 Patienten gestorben. Unsere Tschernobylkinder sind heute Erwachsene von 30 oder 40 Jahren - und wir sind stolz darauf, dass wir rund 150 "Tschernobylenkel" haben. Zwei unserer Tschernobylkinder haben sich allerdings später das Leben genommen. Ursache waren wahrscheinlich die psychischen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe und schlechte soziale Bedingungen. Das sind wohl die gravierendsten Folgen des Unglücks.
Inwiefern?
Die beiden am schwersten betroffenen Länder Weißrussland und die Ukraine zählen zu den Ländern mit der schlechtesten Lebenserwartung der Welt. Dahinter kommen nur Länder aus Zentralafrika und andere Länder mit ganz schlechten gesundheitlichen Bedingungen. Von den 1960er Jahren bis Mitte der 1980er stieg die Lebenserwartung in Weißrussland und der Ukraine kontinuierlich an. Nach Tschernobyl sank sie auf unter 68 Jahre - erst heute liegt sie in der Ukraine bei 71, in Weißrussland bei 72 - in Deutschland bei 81. Es sind indirekte Folgen des Reaktorunglücks: Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion ist auch das gar nicht so schlechte damalige Gesundheitssystem zusammengebrochen. Viele Menschen haben durch den Tschernobyl-Unfall ihre Häuser verloren und ihre Datschen - Gärten, durch die sie sich früher mit frischem Obst und Gemüse versorgt haben. Amerikanische Tabakkonzerne haben mit massiver Werbung und Gratisverteilungen den Markt überschwemmt. Weiß-Russland und die Ukraine zählen zu den Spitzenverbrauchern bei Tabak und Alkohol. Die gesundheitlichen Folgen, die direkt durch die Strahlen verursacht worden sind, spielen eine deutlich geringere Rolle, als die veränderten Lebensbedingungen. Ähnliches ist in Japan absehbar. In drei Wochen treffe ich Kollegen in Fukushima. Dort war das Ausmaß der freigesetzten Strahlen nur ein Zehntel dessen, was in Tschernobyl freigesetzt wurde. Aber die gesundheitlichen Folgen werden auch in Japan gravierend sein, vor allem wegen einer Umstellung der klassischen japanischen, gesunden Küche auf Fast Food bei den Menschen, die noch immer in Behelfsunterkünften leben. Es zeichnet sich bereits ein Anstieg von "zivilisationsbedingten" Erkrankungen wie Zuckerkrankheit bei Kindern und Jugendlichen ab; diese Krankheiten sind in Japan bisher so gut wie unbekannt gewesen.
Für das Fachgebiet Nuklearmedizin haben Sie sich lange vor Tschernobyl entschieden. Warum?
Weil man damit Menschen vor allem in der Krebsmedizin sehr gut helfen kann. Unser Erfolg bei der Behandlung von Schilddrüsenkrebs rührt daher - so unglaublich sich das anhört - dass wir das gleiche radioaktive Jod, das das Erbmaterial der Zelle schädigt und den Krebs in geringen bis mäßigen Dosen ausgelöst hat, in hohen zellabtötenden Dosen benutzen, um die Metastasen zu beseitigen. Es ist wichtig, dass man die Wirkungen und Nebenwirkungen der Strahlenanwendung in der Medizin richtig einschätzt. Die Folgen in Hinblick auf Krebsentstehung sind geringer als oft gedacht wird. Ich arbeite seit 20 Jahren mit Kollegen aus Japan zusammen, speziell aus Nagasaki. Von den 640 000 Menschen, die im Zweiten Weltkrieg durch die Atombomben der Amerikaner dort sehr hohen Strahlendosen ausgesetzt waren, sind etwa ein Drittel gestorben: durch die extrem hohe Strahlungsdosis, aber auch wegen des Feuers und der Explosion. Es ist fast unglaublich, dass nur circa 800 an Krebs erkrankt sind, zusätzlich zu denen, die statistisch ohnehin Krebs bekommen hätten.
Wie viele Menschen starben durch den Reaktorunfall in Tschernobyl - je nach Quelle kursieren Zahlen zwischen 4000 und 100 000.
Ein ukrainischer Minister hat sogar einmal von 120 000 Opfern gesprochen, weil von den 800 000 Liquidatoren bis 2005 bereits fast 20 Prozent gestorben seien. Das ist politisch motivierter Blödsinn. Würde man die Zahlen auf Menschen der gleichen Altersgruppe in der Bundesrepublik übertragen, wäre in der gleichen Zeitspanne sogar eine etwas größere Zahl von Bundesbürgern verstorben. Von 600 Arbeitern in der Anlage starben 31 in den folgenden Monaten. Das ist eine sichere Zahl. Schon bei den Liquidatoren, die die Aufräumarbeiten durchführten, wird es schwieriger. Bei ihnen liegt die Wahrscheinlichkeit, an Leukämie zu erkranken, um 20 Prozent höher als normal. Aber Leukämie ist sehr selten, trifft weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit an Krebs zu erkranken, bei den Liquidatoren um etwa fünf Prozent höher als normal. Krebs ist sehr häufig. Auch in der Bundesrepublik liegt die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, bei 25 Prozent. Am schwierigsten ist eine Einschätzung der Folgen auf die Einwohner: etwa 120 000 Menschen, die aus der 30-Kilometer-Zone evakuiert wurden, weitere sechs Millionen Bewohner kontaminierter Gebiete. Hier ist der Schilddrüsenkrebs bei Kindern etwa ums 15-fache erhöht, das sind circa 6000 Fälle. Schilddrüsenkrebs ist mein Arbeitsschwerpunkt und die häufigste Folge, die direkt mit dem Reaktorunfall in Verbindung gebracht wird. Junge Menschen bis zum 18. Lebensjahr sind besonders strahlensensibel, deswegen trat die Krankheit bei Kindern und Jugendlichen gehäuft auf.
Hätten die Auswirkungen nach der Katastrophe gemildert werden können?
Man hätte kontaminierte Lebensmittel und vor allem Milch für die Kinder sofort aus dem Verkehr ziehen und Jod in Tablettenform geben müssen, um die Schilddrüse abzusättigen. Jod wird ja nicht nur durch die Nahrung, sondern auch durch die Atmung aufgenommen. Polen, das aufgrund der Windrichtung am viertstärksten betroffene Land, hat diese Maßnahmen schnell und wirkungsvoll ergriffen: Dort gab es aufgrund von Tschernobyl keine zusätzlichen Fälle von Schilddrüsenkrebs. Die 6000 Betroffenen in Weißrussland, der Ukraine und dem westlichen Russland sind erkrankt, weil der Reaktorunfall von den Behörden vertuscht wurde. Wer nicht in der unmittelbaren Umgebung wohnte, hat davon nichts mitbekommen. Ich habe das selbst erlebt: Ich war im Mai 1986 bei Fachkollegen in Moskau eingeladen - vier Wochen nach Tschernobyl. Keiner von denen wusste etwas, keiner wusste, dass man bei Lebensmitteln aufpassen muss. Eltern haben ihren Kindern unwissentlich kontaminierte Nahrungsmittel verabreicht: Milch, Obst und Gemüse.
Noch heute leben Menschen in der Todeszone oder kommen sogar dorthin zurück und essen, was sie dort anbauen.
Bei einer Strahlenbelastung wie in Tschernobyl dauert es beim Erwachsenen zwischen zehn und 40 Jahren, bis man einen strahlenindizierten Krebs bekommt - es ist unwahrscheinlich, dass das den Alten dort noch groß schadet. Es hört sich makaber an: Aber es spricht nichts dagegen, dass diese Menschen ihrer Heimat treu bleiben.
Was bedeutet die noch immer messbar erhöhte Radioaktivität von Wild und Pilzen bei uns?
Bei Messungen werden heute noch mehr oder minder geringe Mengen gefunden. Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, nicht öfter als einmal pro Woche eine Wildmahlzeit oder ein Gericht von wild wachsenden Pilzen zu essen. Dann ist es kein Problem.
Die Fragen stellte Natalie Schalk.
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