Familie in ständiger Angst
Autor: Diana Fuchs
Kitzingen, Donnerstag, 05. März 2020
Nacht für Nacht werden Menschen abgeschoben. Obwohl bestens integriert, droht auch Familie Nazarenko dieses Schicksal.
Auf dem Fenstersims stehen Blumen. An der Wand hängen bunte, selbst gemalte Bilder der Kinder. Diana Nazarenko kocht in der Küche Tee. Ihr Mann Igor sitzt am Tisch und liest. Nebenan spielen die beiden Kinder mit ihrer deutschen "Oma". Der neunjährige Renat zeigt ihr gerade zwei goldene Medaillen, die er beim Sport im Kitzinger "Dragon Gym" errungen hat. Alles wirkt friedlich und ruhig. Doch Diana Nazarenko hat Ringe unter den Augen. Seit Wochen schläft sie nicht richtig. Jedes Auto, das in der Nähe anhält, schreckt sie auf. Leise, so dass die Kinder es nicht hören können, sagt sie: "Wenn sie uns nachts holen und wegbringen, können wir nichts dagegen tun."
Diana Nazarenko ist 38 Jahre alt, eine zierliche Frau mit dunklem Haar und braunen Augen. Sie war noch ein Kind, als sie mit ihrer Mutter, einer Armenierin, und ihrem Bruder Mitte der 90er Jahre von Georgien - der Heimat des Vaters - in die Ostukraine zog. 20 Jahre lang war alles gut. Dann kam der Krieg, und das Leben wurde schrecklich kompliziert.
"Wir lebten in Lyman, im Gebiet von Donezk. Im Frühjahr 2015 kidnappten Separatisten Igor, als er gerade angeln war. Drei Tage lang hielten sie ihn fest und zwangen ihn, wie andere Männer auch, für sie Schützengräben auszuheben", berichtet Diana Nazarenko in gutem Deutsch. "Ich wusste nicht, wo er war, und hatte schreckliche Angst um ihn. Zum Glück ließen sie ihn wieder frei. Aber wenig später nahm ihn die ukrainische Armee fest, weil es hieß, er hätte für die Russen gearbeitet." Die 38-Jährige schüttelt den Kopf. "Das war furchtbar."
Als Igor fliehen konnte, berichtete er seiner Frau von einem Schlepper, den er kennengelernt hatte. Die beiden beschlossen, dem Mann Geld zu geben und zu flüchten. In einer Nacht- und-Nebel-Aktion packte das Paar im Mai 2015 seine Sachen, nahm Abschied von den Eltern und machte sich mitsamt dem kleinen Sohn Renat auf den Weg in den Westen. Über Stationen in den Flüchtlingslagern Karlsruhe, Zirndorf und Fürth kam die kleine Familie nach Kitzingen, wo sie seither im Corlette-Circle lebt. Im März 2016 kam in der Kitzinger Klinik Töchterchen Erika auf die Welt.
Diana Nazarenko hatte auf einen Neuanfang gehofft. Auf Sicherheit in Deutschland. Sie hatte in der Ukraine als Sonderpädagogin und Logopädin gearbeitet sowie später in der örtlichen Arbeitsagentur. Ihr Mann Igor hatte als Zugmechaniker unter anderem Lokomotiven repariert. Beide dachten, ihre Fähigkeiten könnten in Deutschland nützlich sein. "Außerdem sind wir flexibel und arbeiten uns auch gerne in andere Bereiche ein." Doch so weit kam es nicht. Im November 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Asylanträge der Nazarenkos ab. Begründung: Die Lage in der Ukraine sei nicht mehr gefährlich, zudem könne die Familie ja innerhalb der Ukraine in eine Gegend ziehen, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werde.
Diana Nazarenko sagt dazu: "Ich denke, es ist sehr wohl gefährlich. Meine Mutter hatte schon zweimal 'Besuch' von Unbekannten, die herausfinden wollten, wo Igor ist." Igor selbst sagt: "Wir könnten in der Ukraine nicht in Frieden leben." Die Armee gehe mit Geflüchteten nicht zimperlich um. Die Familie legte Berufung gegen das BAMF-Urteil ein. Vergeblich.
Nicht nur für Renat, der in die dritte Grundschulklasse geht und ein Einserschüler ist, sowie seine kleine Schwester Erika, die den Kindergarten St. Elisabeth besucht, würde ein "Rückzug" bedeuten, dass sie all ihre Freunde verlieren. Auch die Eltern sind gut integriert: Igor führt ehrenamtlich eine Fahrradwerkstatt und unterstützt den Hausmeister im Corlette-Circle, Diana engagiert sich ehrenamtlich als Alltagsbegleiterin für die Fachstelle für pflegende Angehörige, als Dolmetscherin für andere Flüchtlinge und im Frauentreff. Schon zweimal musste sie ein Ausbildungsangebot als Gesundheits- und Krankenpflegerin ausschlagen - weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung und damit keine Arbeitserlaubnis bekam. Ab 1. April 2020 könnte sie erneut die Ausbildung zur Krankenpflegerin beginnen - im Würzburger Juliusspital. Doch eine beantragte Duldung lehnte die Ausländerbehörde ab. Da die Nazarenkos nicht freiwillig ausreisen wollen, "wurde eine Aufenthaltsbeendigung konkret vorbereitet", heißt es in einem Brief des Bayerischen Integrationsministeriums vom Dezember 2019. Will heißen: Die Abschiebung naht.