"Nicht mein letzter Einsatz"
"Beim ersten Gang durch die Reihen werden schwer Kranke mit hohem Fieber, akuter Tuberkulose und Herzerkrankungen an den Anfang der Warteschlange gestellt." Diese Menschen behandeln die ehrenamtlichen Ärzte vorrangig. Bis in den späten Nachmittag hinein, unterbrochen von kurzen Pausen, dauern die Sprechstunden.
"Trotz der oft anstrengenden Bedingungen wusste ich gleich: Das wird nicht mein letzter Einsatz mit den 'German Doctors' gewesen sein", erinnert sich Rita Wörrlein. "Das Prinzip der Hilfe, die nachhaltig wirkt, ist unbedingt unterstützenswert - egal, ob durch persönlichen Einsatz oder finanzielle Spenden."
Als sie in Indien gebraucht wurde, zögerte die Fränkin daher nicht. Zweimal sechs Wochen, unterbrochen von einer anderthalbjährigen Pause, verbrachte sie in Kalkutta. In der indischen Hauptstadt seien neben fünf Ärzten aus Deutschland stets mehrere einheimische Schwestern und Übersetzer bei den verschiedenen Einsätzen im Slum mit dabei. "Ein paar kleine Tische, Stapelstühle, klappbare Behandlungsliegen und Aluminiumkisten mit Medikamenten und Verbandsmaterial - mehr brauchten wir nicht, um mit Mini-Transportern in die Slum-Ambulanzen zu fahren und dort die Menschen zu behandeln, die bei 40 Grad stundenlang in der Schlange standen. All jene könnten sich niemals einen Arzt leisten." Dabei sind viele schwer krank: "Täglich hat das Team schwerste Tuberkuloseerkrankungen, Unterernährung, Haut- und Organerkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln. Am Wochenende sind wir in regelmäßigem Turnus in Ziegeleien am Stadtrand von Kalkutta gefahren, in Gebiete, in denen es für die Wanderarbeiter und ihre Kinder überhaupt keine ärztliche Versorgung gibt. Die Eindrücke dort wühlen einen tief auf."
Nach einem langen Tag im Slum, der "bei extremen klimatischen Bedingungen auch körperlich eine Herausforderung darstellt", so Rita Wörrlein, fahren die Ärzte abends nicht etwa in ein Hotel. "Für Kost und Logis sorgt der Verein 'German Doctors'. Wir wohnen und essen landestypisch. Da lebt man halt mit 72 wie damals als Student wieder mal in einer WG." Rita Wörrlein mag diese Erfahrung, durch die sie "viele Freundschaften gewonnen" habe. "Man kommt sich zwangsläufig nahe, baut zu Kollegen, Dolmetschern und den heimischen Mitarbeitern herzlichen Kontakt auf. Ich finde das sehr bereichernd - auch wenn ich nach sechs Wochen schon froh über etwas Privatsphäre bin."
Wie alle Ärzte, die sich für einen Einsatz bei den "German Doctors" bewerben, wurde Rita Wörrlein nicht einfach ins kalte Wasser geworfen. "Jeder bekommt in Seminaren eine fundierte Vorbereitung auf sein Einsatzgebiet." Es ist ein Unterschied, ob man in der indischen Hauptstadt oder mitten im Dschungel eingesetzt wird.
Im Urwald hat beispielsweise Reinhart Unverricht gearbeitet. Der 69-jährige Würzburger Allgemeinarzt und Osteopath lebte von Mitte Dezember bis Ende Januar auf den Philippinen, im Gebiet der Mangyanen. Die Mangyanen gehören zu den indigenen Völkern auf den Philippinen. Sie sind die Ureinwohner des Landes und leben zurückgezogen im Hochland der Insel Mindoro. "Es sind kleine, freundliche Menschen, bei denen Frauen und Männer traditionell gleichgestellt sind", berichtet Reinhart Unverricht. "Trotz ihrer großen Armut sind sie sehr fröhlich." Allerdings leiden sie unter teils schlimmen Krankheiten. "Entzündungen innerhalb und außerhalb der Lunge und Masern kommen häufig vor, außerdem haben fast alle Menschen Würmer."
Begrenzte Möglichkeiten im Urwald
Nicht immer können die Ärzte die Kranken retten. "Das erste sterbende Kind war für mich ein schreckliches Erlebnis", erinnert sich Unverricht. "Aber so etwas gehört dazu. Im Urwald sind die medizinischen Möglichkeiten begrenzt."
"In den Slums auch", fügt Rita Wörrlein hinzu. Kinder und alte Menschen seien oft unterernährt. Bei vielen, aber nicht allen können die Ärzte die Lebenssituation durch medizinische Maßnahmen und Hilfe zur Selbsthilfe dauerhaft verbessern. "In jedem Fall aber sind die Menschen sehr dankbar. Allein die Tatsache, dass ihnen ein Arzt, sogar noch ein weißer, zuhört, ist heilsam, denn solche Wertschätzung kennen viele Moslems und Hindus nicht, vor allem nicht die der untersten Kaste, der Unberührbaren."
Die Dankbarkeit dieser kranken Menschen bildet einen krassen Kontrast zur Unzufriedenheit mancher kerngesunder Deutscher. Als die Ansbacherin nach ihrem letzten Indien-Einsatz wieder daheim landete, musste sie tief durchatmen. Nicht vor Erleichterung, zurück zu sein, sondern weil "es hier eine Grundhaltung gibt, die mich sehr abgestoßen hat, als ich zurückkam. Es ist eine allgemeine Sattheit, die nicht zu Zufriedenheit führt."
Sowohl in Afrika als auch in Indien hat die 72-Jährige ganz andere Erfahrungen gemacht. "Die Herzlichkeit und Lebensfreude der Menschen ist trotz ihrer harten Lebensbedingungen anrührend." Sie bereue keine Sekunde ihres Einsatzes, sagt sie. "Es ist eine große Herausforderung und eine direkte Art zu helfen. Und vor allem: Es ist Hilfe, die bleibt." Denn bei all ihren Projekten sei es das Ziel der 'German Doctors', viele Einheimische mit ins Boot zu nehmen und auszubilden, so dass sie irgendwann selbstständig arbeiten können.
Nicht nur deshalb ist Rita Wörrlein von den "German Doctors" begeistert. Sie findet auch die "vergleichsweise niedrigen Verwaltungskosten" - aktuell sind es 4,1 Prozent - und "die gegenseitige Kontrolle" in der Nichtregierungsorganisation gut. Rita Wörrlein muss nicht lange überlegen: "Wenn ich körperlich fit bleibe, werde ich gerne einen weiteren Einsatz leisten. Ich kann das jedem Mediziner nur raten: Es ist eine unglaublich bereichernde Erfahrung." Reinhart Unverricht nickt. "Der Blickwinkel auf das Leben weitet sich ungemein."
INFO:
German Doctors e.V.
Organisation: Die "German Doctors" sind eine international tätige Nichtregierungsorganisation, die unentgeltlich arbeitende Ärztinnen und Ärzte zu langfristig angelegten Hilfseinsätzen auf die Philippinen, nach Indien, Bangladesch, Kenia und Sierra Leone entsendet. Die "Doctors" setzen sich für ein Leben in Würde ein und behandeln die Ärmsten der Armen. Durch Präventivmaßnahmen wie Ernährungsprogramme oder Hygiene- und Diabetesschulungen soll die Gesundheit der Patienten dauerhaft verbessert werden. Auch die Mitarbeiter vor Ort werden von den "German Doctors" regelmäßig weitergebildet.
Grundsatz: Die "German Doctors" helfen allen Menschen, egal welcher ethnischen Zugehörigkeit, Religion oder Staatsangehörigkeit.
Einsatzdauer: Die Ärzte arbeiten in ihrem Jahresurlaub oder im Ruhestand für einen Zeitraum von sechs Wochen in den jeweiligen Ländern. Sie verzichten dabei auf jegliche Vergütung und zahlen weitgehend ihre Flüge selbst.
Bilanz: Seit der Gründung der gemeinnützigen Vereins "German Doctors" 1983 leiteten mehr als 3.350 Mediziner über 7.400 Einsätze.
Weitere Infos: www.german-doctors.de; Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE26 5502 0500 4000 8000 20, BIC: BFSWDE33MNZ, Stichwort: Hilfe weltweit