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Nürnberg: Ein Friedhof ohne Tote


Autor: Matthias Litzlfelder

Nürnberg, Sonntag, 01. November 2015

240 Gräber, in denen niemand begraben liegt: Auf dem Leitfriedhof in Nürnberg können sich Steinmetze und Friedhofsplaner Anregungen holen, welche Formen der Grabkultur möglich sind. Doch seine Tage scheinen gezählt.
Blick auf eine Ecke des Nürnberger Leitfriedhofs: Gräber, in denen niemand liegt. Foto: Ronald Rinklef


73 Jahre alt ist Inge Gulde geworden. Seit 1990 liegt sie hier, so die Inschrift auf ihrem Grabstein. Doch wer den Nürnberger Südfriedhof von Südosten her betritt, und vor dem Grab von Frau Gulde verweilt, wird plötzlich stutzig. Der Blick fällt auf einen Stein schräg vorne, zwei Reihen weiter. Die Inschrift dort: "Inge Gulde. *1917 †1990". Gleich daneben ein dritter Grabstein mit dem Namen der Frau.
Inge Gulde liegt in keinem der Gräber. Sie ist auch nicht 1990 gestorben, hat vermutlich gar nicht gelebt. "Hier sind oft fiktive Namen angebracht. Die Inschrift ist ein wesentliches Gestaltungselement. Ohne sie wirkt ein Grabmal nicht", erklärt Michael Gärtner.


Nur dreimal in Deutschland

Der 46-Jährige hat einen außergewöhnlichen Beruf. Er ist Grabmalberater. "Meinen Job findet man nur an drei Stellen in Deutschland. Es gibt noch einen Kollegen in Stuttgart und drei in München", erzählt Gärtner.
So ausgefallen wie seine Tätigkeit ist auch der Ort, den der Mitarbeiter der Nürnberger Friedhofsverwaltung präsentiert. Ein ehemaliges Waldstück, das man freigelegt hat. 1981 wurde es als Leitfriedhof eröffnet, als Impulsgeber für Friedhofsplaner und Steinmetze, mit zahlreichen Beispielen und Ideen für zeitgemäßes Gestalten von Friedhöfen.


Gegen das Schablonendenken

"Früher war ein gängiger Friedhof ganz eng gerastert. Hier auf dem Leitfriedhof nutzte man erstmals Freiräume - eine hochwertige Gestaltung, die Ruhe und Geborgenheit ausstrahlt", sagt Gärtner.
Und noch etwas anderes bewog die damaligen Initiatoren. Grabmale wurden in den 1970er Jahren immer mehr industriell gefertigt. Eine schablonenhaften Massenindustrie warf die klassischen Grundlagen über Bord. Man wollte mit einem neuen Leitbild gegensteuern.
Platz ist genug vorhanden. Auf den mehr als 6000 Quadratmetern Fläche kann der Besucher 240 Gräber betrachten.
Jedes Grabmal ist anders. In Stelen- oder Quaderform sind viele gemeißelt, einige bestehen aus Metall, auch Holzformen tauchen mitunter auf. Alle diese Beispiele haben Steinmetze oder Metall- und Holzgestalter hier kostenlos und dauerhaft aufgestellt. In würdevoller Form: Werbeschildchen gibt es nicht. "Es sollte von Anfang an kein Ausstellungsgelände für Steinmetze sein", sagt Gärtner.


Kreative Steinmetze

Matthias Claudius (1740 - 1815) steht auf einem der Steine. Auch Schriftsteller Max Frisch ist auf dem Nürnberger Leitfriedhof zu finden. Fiktive Namen waren einigen Steinmetzen wohl zu langweilig.
"Die meisten Steine wirken irgendwie zeitlos, obwohl sie schon seit 30 Jahren dastehen", sagt Gärtner. Seit zehn Jahren ist der Steinmetz- und Steinbildhauermeister sowie geprüfte Restaurator in der Nürnberger Friedhofsverwaltung tätig, seitdem auch Ansprechpartner für den Leitfriedhof.
Die Gräber sind laut Gärtner so angelegt, dass sie leicht zu pflegen sind. "Es gibt hier aber keine Bodenplatten, weil das mit dem Konzept Waldfriedhof kollidiert", berichtet Gärtner. "Wir zeigen hier: Man kann ein pflegefreies und dennoch würdiges Grab schaffen."
Auf vielen Sandsteinen haben es sich Moos und Flechten bequem gemacht. Die natürliche Verwitterung sei gewünscht, erklärt Gärtner. Ein Stein zeige sich so einem Menschen ähnlich. "Viele Menschen können sich damit identifizieren, dass der Stein in Würde altert."


"Echtzeiterlebnis geht verloren"

Neue Gräber kommen nicht mehr dazu. Der Leitfriedhof soll sukzessive aufgegeben werden, hat ein Kuratorium, dem unter anderem Fachverbände des Handwerks angehören, im Sommer dieses Jahres beschlossen.
"Früher sind die Gemeindevertreter hierher angereist, heute wird oft nur im Internet geklickt. Im medialen Zeitalter hat sich diese Art Friedhof leider überholt. Die Wertschätzung dieses Echtzeiterlebnisses geht immer mehr verloren. Doch das ist in vielen Bereichen so", sagt Gärtner.


Selten länger als 20 Jahre

Wenn kein Interesse mehr am Fortbestand des Nürnberger Leitfriedhofs besteht, dann könnte den meisten der Gräber hier am Ende das übliche Schicksal vieler Grabstätten auf dem direkt angrenzenden Nürnberger Südfriedhof widerfahren. "Die Ruhefrist beträgt bei uns zehn Jahre. Länger als 20 Jahre werden hier ganz wenige Gräber genutzt", berichtet Gärtner.