Druckartikel: Lieber nackt als angepasst - Jugendkultur im Nationalmuseum

Lieber nackt als angepasst - Jugendkultur im Nationalmuseum


Autor: Christoph Hägele

Nürnberg, Samstag, 16. November 2013

Das Erbe der Jugendbewegungen ist so zwiespältig wie die deutsche Geschichte selbst. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg widmet ihnen derzeit eine packende Schau.
Die deutschen Jugendbewegungen im Spiegel der Kunst: "Fidus. Lichtgebet" von Hugo Höppener.  Repro: Germanisches Nationalmuseum


Mit einer Bratwurst in der Hand und einer Zigarette im Mundwinkel hätte man sich besser nicht erwischen lassen sollen. In der Lust auf Fleisch und Nikotin erkannten die jungen Leute das Kainsmal des falschen Bewusstseins. Ihre Individualität glaubten sie von den Zwängen der Mode gefährdet und "Alltag" übersetzten sie mit Lärm, Beschleunigung, Stress und mentaler Erschöpfung.

Was heute selbst in bürgerlichen Kreisen als Konsens des Selbstverständlichen gilt, war im Herbst 1913 noch das Privileg jugendlichen Aufbruchsgeists. Jugendliche aus ganz Deutschland feierten auf dem Hohen Meißner bei Kassel das Fest der Freideutschen Jugend. Sie verachteten die Schlote der Fabriken und die mittleren Gestalten um sich herum für deren gebücktes, naturfernes, mit einem Wort: entfremdetes Leben. Sie verherrlichten die Sonne, die Luft und die Natur. Sie wanderten und sangen.

100 Jahre später hat das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg dieses Ereignis zum Anlass für seine Sonderschau "Aufbruch der Jugend" genommen. Am Beispiel von 400 Bildern, Fahnen, Liederbüchern und Alltagsgegenständen beschäftigen sich die Ausstellungsmacher mit den deutschen Jugendbewegungen zwischen den Jahren 1900 und 1960.

So verschieden sie waren, so unbeirrbar waren die Jugendgruppen in ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung. "Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen ein", hieß die Parole auf dem Meißnerfest. Den Selbstwirklichungsansprüchen der Jugendlichen im Weg stand vor allem ein Erziehungs- und Schulsystem, das sich an Dressur und Disziplinierung orientierte.

Freiheit und Diktatur

In vier Phasen ist die Nürnberger Schau unterteilt: 1914 - 1918 - 1933 - 1945. Es ist, grob gesagt, die Zeit der Wandervogel-Bewegung, die Zeit der Bünde, drittens die der nationalsozialistischen Herrschaft mit Formen jugendbewegter Kollaboration, aber auch Widerstands und abschließend die Rückkehr in die Zivilisation.

Das Erbe der deutschen Jugendbewegungen ist so zwiespältig, wie es die deutsche Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts als Ganze ist. Jugendbewegungen wie die Wandervögel und die Bünde der 1930er stehen für Emanzipation, Freiheit und Gemeinschaft.

Sie stehen aber auch für Diktatur, Krieg und Massenmobilisierung. Es war um das Jahr 1900, als sich Jugendlichkeit zu einem Sehnsuchtswort entwickelt hat. Verbunden waren damit Vorstellungen von Dynamik, Zukunft und Gesundheit. Der Rest war Schlaffheit, Dekadenz und Niedergang. Mit einem Wort: das Alter. Das von Karl Wilhelm Diefenbach geschaffene Bild "Sonnenaufgang" setzt diese Haltung empathisch in Szene. Sein mit dem Titel "Die Jugend triumphiert über das Alter" versehenes Bild zeigt einen Felsen, der die Form eines Greisenkopfs besitzt. Darauf steht ein junges Paar und betet die Sonne an. Kraft tritt darin an die Stelle von Autorität, Esprit triumphiert über Würde und Mut über Erfahrung.

Diese Haltung in eine konkrete Lebenspraxis zu übersetzen, gelang vor allem der Wandervogel-Bewegung, zu der sich Gymnasiasten 1896 zusammengeschlossen hatten. Ihre Ausflüge in die Natur und das gemeinsame Singen am Lagerfeuer stifteten jenes Gemeinschafts- und Freiheitsgefühl, das die Jugendlichen in Schulen und Elternhäusern nicht fanden.

Eingliederung in die Hitlerjugend

Man muss annehmen, dass auch viele aus der Wandervogel-Bewegung mit fliegenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg gezogen sind. Erhofften sie sich doch Abenteuer und existenziell erschütternde Erfahrungen. Es dauerte aber nicht lange, bis diese Hoffnungen in den Schützengräben im Blut ersoffen.

Dennoch: Vorstellungen von Blut, Ehre und Treue und die Idee einer vormodernen, mythischen Volksgemeinschaft zählten nach dem Ersten Weltkrieg stärker denn je zum ideellen Haushalt vieler Jugendbewegungen. Entsprechend offen zeigten sich viele Gruppen gegenüber den aufstrebenden Nationalsozialisten. Schon 1933 wurden sämtliche deutsche Jugendbewegungen auf Anweisung des Reichsjugendführers Baldur von Schirach in die Hitlerjugend überführt. "Hinaus mit allen Störenfrieden. Einheit der Jugend in der Hitlerjugend", ließ ein Plakat 1935 keinen Zweifel mehr am Alleinvertretungsanspruch der Nazis.

Im Katalog zur Ausstellung geht Alexander Schmidt dennoch einigermaßen gnädig mit den Jugendbewegungen und ihrer historischen Schuld um: "Weniger eine direkte Vorläuferschaft zur Hitlerjugend oder gar eine Vorbereitung des Nationalsozialismus gehören zum problematischen Erbe der Jugendbewegung, sondern die Ablehnung der Weimarer Demokratie und damit die Mitwirkung an ihrem Untergang", schreibt der Historiker.

Die fitten Alten auf Europas Straßen

Ein halbes Jahrhundert später sang die deutsche Popgruppe Alphaville das Lied "Forever Young". Vielleicht ohne es zu wollen, glückte ihr damit der Soundtrack für eine Zeit, in der Jugendlichkeit als Goldstandard eines gelingenden Lebens gilt.

Die Straßen Europas sind heute voll von modisch angezogenen und fitten Alten. Dort scheint man sich auch an die Vorstellung gewöhnt zu haben, dass in den Südländern ein gutes Viertel der Jugendlichen ohne Job und Perspektive ist. Auch in Deutschland lebt die Gesellschaft systematisch auf Kosten der Jugendlichen. Stichworte sind Klimawandel, Staatsverschuldung und die soziale Sicherungssysteme, die unter dem demografischen Wandel ächzen.

Das hohe Wort von der Generationengerechtigkeit meint aber nichts anderes als die Pflicht der Älteren, das ihre dafür zu tun, damit es den Jungen einmal nicht schlechter geht. Als Adressat politischen Handelns spielen Jugendliche heute aber kaum eine Rolle. Das tut allenfalls das Kind - als Objekt von Krippenplätzen oder Betreuungsgeld.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass Jugendliche wieder ihre Stimme erheben. Auch auf diese Idee bringt einen die eindrucksvolle Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum.

Informationen zur Ausstellung "Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung" auf der Seite des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Die Ausstellung geht bis zum 19. Januar 2014.