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Eine Nacht in der Leitstelle der Nürnberger U-Bahn


Autor: Robert Wagner

Nürnberg, Freitag, 04. Sept. 2015

Tausende Menschen fahren täglich durch die Nürnberger Nacht. Im letzten Teil unserer Serie begleiten wir einen, der das überhaupt erst möglich macht. Franz Schmitz überwacht den Verkehr der U-Bahnlinie 1. Er erzählt von seiner Arbeit und tragischen Unfällen - und was 37 Jahren Schichtarbeit für Körper und Seele bedeutet.
Auf Dutzenden Monitoren beobachtet Franz Schmitz den Verkehr und die Fahrgäste in der Nürnberger U-Bahn.  Foto: Robert Wagner


Zeitgleich öffnen sich ein Dutzend Türen. Menschen hasten heraus, drängen sich an den Wartenden vorbei. Kaum sind sie aus dem Weg, quetschen sich neue Fahrgäste in die metallenen Waggons. Ein lautes Piepen ertönt, krachend schließen sich die Türen. Mit einem Ruck startet die U-Bahn. Viel Zeit bleibt nicht: Von den Rolltreppen strömen weitere Fahrgäste und schon in drei Minuten fährt die nächste Bahn ein.

600 000 Menschen transportiert die VAG Nürnberg an Spitzentagen. 400 000 von ihnen nutzen die U-Bahn. Die Stadt ist wie ein Ameisenhaufen: chaotisch und geordnet zugleich. Doch was fast automatisch zu funktionieren scheint, erfordert in Wahrheit ein Höchstmaß an Organisation. In der Leitstelle der VAG am Plärrer laufen alle Fäden zusammen. Hier sitzen die Männer und Frauen, die für einen reibungslosen Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs sorgen.

Und das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.

Einer von ihnen ist Franz Schmitz. "Disponent" heißt sein Beruf im Fachjargon. Er sitzt vor einer Wand, an die in bunten Farben Striche, Zahlen und Buchstaben projiziert werden. Sie stellen die Linie U 1 dar, für die Schmitz verantwortlich ist. Daneben hängen ein Dutzend Bildschirme. Auf ihnen sind Bahnsteige zu sehen, Menschen huschen durchs Bild. Doch es sind nicht viele. Denn es ist mitten in der Nacht.

Dass das so ist, erkennt man nur, wenn man auf die Uhr an der Wand schaut. Denn der ganze Raum ist von Neonlicht erleuchtet. Es erinnert an das weiß-milchige Licht der U-Bahnhöfe, welches es unmöglich macht, die Tageszeit zu erkennen.

Vor Schmitz sind fünf Monitore aufgebaut. Auch auf ihnen ist ein Wirrwarr an Farben und Zahlen zu erkennen. Wie soll man da nur den Überblick bewahren?

"Das geht irgendwann ganz von alleine. Manchmal reicht mir schon ein Blick aus den Augenwinkeln, um zu erkennen, dass irgendwas nicht stimmt", erzählt Schmitz. Er ist 58 Jahre alt. Seit seinem 21. Lebensjahr arbeitet Schmitz im Schichtdienst. Erst bei der Deutschen Bahn, seit 1982 bei der VAG in Nürnberg.


Ordnung im Chaos

Geduldig erklärt er die Bedeutung der Farben und Zahlen. Er zeigt auf eine Zahl auf der großen Leinwand - 3 17 86. Die 3 sagt ihm, dass es sich um einen Langzug handelt. Die 17 ist die Nummer des Zuges und an der 86 erkennt Schmitz den Kurs der U-Bahn. Der Streckenabschnitt vor der Zahl ist grün, es gibt keine Störungen. Falls ein Problem auftauchen würde, würde Schmitz die Bahn umleiten.

Schmitz erzählt von seinem Arbeitsalltag: 20.30 Uhr Übergabe, bis 1 Uhr Überwachung der Linie U 1. Mit einem Kollegen ist er verantwortlich für den reibungslosen Verkehr der Bahnen und die Überwachung der Bahnhöfe. Erst dort, wo die Fahrgäste ihre Tickets entwerten, endet Schmitz' Reich. Ab 1 Uhr gilt es dann, Wartungen und Bauarbeiten zu koordinieren. Alles muss präzise ablaufen. Denn um 4 Uhr fahren bereits wieder die ersten U-Bahnen. Erst dann, um 4.30 Uhr, endet Schmitz Schicht.

So geordnet wie der Bahnverkehr läuft auch Schmitz' Leben ab. Jetzt hat er vier Tage Nachtschicht, dann zwei Tage frei. Es folgen vier Tage Spätschicht, vier Tage Frühschicht und immer so weiter. 365 Tage im Jahr, ohne Rücksicht auf Wochenende oder Feiertage. Sein Urlaub ist bereits auf Jahre festgelegt. Einmal im Winter, einmal im Sommer. Einfluss auf die Termine hat Schmitz nicht - nur mit Glück kann er manchmal mit einem Kollegen tauschen.

Das führt zu privaten Problemen, erklärt Schmitz ganz offen. Familie und Freundschaften leiden unter dem Schichtdienst. Ein Wochenendausflug, gemeinsames Kartenspielen oder etwas trinken gehen - das ist nur schwer organisierbar. Vielen Bekannten fehlt es da irgendwann an Verständnis. Und so konzentriert sich viel auf die Arbeitskollegen. "Doch da geht es dann natürlich auch oft um die Arbeit."

Hinzu kommen Schlafstörungen, erzählt Schmitz. Je älter er werde, desto mehr machen sich die negativen Folgen der Schichtarbeit bemerkbar. Und trotzdem: Schmitz mag seinen Job. Die Arbeit ist abwechslungsreich. Immer wieder tauchen neue Probleme auf, die es zu lösen gilt. Und außerdem hat er so auch unter der Woche manchmal frei. Dann kann er in Ruhe angeln oder einkaufen gehen.

 


Plötzlich kommt alles auf einmal

In dieser Nacht hat Schmitz Zeit, über sein Arbeitsleben zu erzählen. Es ist ruhig. Die Langzeitbaustelle am Bahnhof Scharfreiterring ist eins der wenigen Probleme in dieser Nacht. Ob er sich mehr "Action" wünsche? "Also der Sonntag kann schon echt manchmal sehr lang sein." Aber dann passiert eben alles auf einmal. Schnell muss er dann reagieren, die richtige Lösung finden. Bahnen umleiten, Mitarbeiter koordinieren. Und dann gibt es garantiert noch irgendwo einen Notruf. Seine Arbeit erinnert ein bisschen an die eines Torwarts. 89 Minuten ist es relativ ruhig, doch in der einen entscheidenden Minute muss er da sein - sonst ist das ganze Spiel verloren.

Und tatsächlich: In diesem Moment geht ein Notruf in der Leitstelle ein. An einer Rolltreppe hat sich ein Unfall ereignet. Funksprüche werden ausgetauscht. Ein Mann sei gestürzt. Wenig später dann die Entwarnung: Der Mann hat sich nur leicht verletzt. Schmitz trägt den Vorfall in sein System ein. Zu statistischen Zwecken. Die Dokumentation solcher Vorfälle macht einen erheblichen Teil seiner Arbeit aus.

Zum Glück ging es heute glimpflich aus. Schmitz erinnert sich an einen Vorfall aus dem Jahr 2003. Damals hatten drei Bauarbeiter ohne Rückmeldung zu früh nach ihrer Pause die Gleise betreten. Sie wurden von einer heranrasenden Lok erfasst. Alle drei starben. Ein tragischer Unfall, der sich nicht wiederholen soll. Auch dafür macht Schmitz seine Arbeit.

Ein Kollege ruft Schmitz an. Eine weitere Baustelle soll spontan noch heute Nacht begonnen werden. Schmitz muss prüfen, ob das möglich ist. Dazu widmet er sich wieder seinen Monitoren. Auf den Bildschirmen im Hintergrund fährt gerade eine Bahn am Plärrer ein. Menschen steigen aus, andere drängen an ihnen vorbei. Von Schmitz Arbeit ahnen sie nichts. Für sie scheint alles ganz automatisch zu funktionieren. Damit das so bleibt, richtet Schmitz auch weiter seine Augen in die Nürnberger Nacht.