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So viel Franken steckt in der "Lindenstraße" - ein Gespräch mit dem Macher


Autor: Peter Groscurth

Bamberg, Freitag, 04. Dezember 2015

Hans W. Geißendörfer ist der Macher der "Lindenstraße". Seine Kindheit verbrachte er in Neustadt/Aisch. Eine Zeit, die auch die "Lindenstraße" beeinflusst hat.


30 Jahre "Lindenstraße" und weit davon entfernt, bieder zu sein. Wo liegt das Erfolgsgeheimnis Ihrer Serie, die ohne große Werbung Sonntag für Sonntag mehr als 2,5 Millionen Menschen in ihren Bann zieht?
Hans W. Geißendörfer: So richtig genau weiß ich das auch nicht, vermute aber, dass die Zuschauer fühlen, dass wir sie ernst nehmen, dass wir nicht der Spekulation auf möglichst große Wirkung folgen, sondern versuchen, Ereignisse und Themen zu behandeln, die uns allen etwas angehen oder die jeder in seinem Alltag schon mal erlebt hat oder als glaubwürdig erfährt. Und das gemeinsame Älterwerden mit den Charakteren der "Lindenstraße" ist sicher auch spannend, zumal die einzelnen Lindensträßler auch sehr lebendig mit den Problemen, Freuden und Leiden unseres Landes umgehen.

Wie kam es überhaupt zur Idee

eines solchen Formates, das 1985 in Deutschland ohne Vorbild war und eine echte Neuerung darstellte?
Erstens wollte ich ein großes Publikum erreichen, da meine Kinofilme teilweise nur mäßigen Erfolg hatten, ich mir aber einbildete, als Alt-68er etwas zu sagen zu haben. Zweitens weil ich einen regelmäßigen Umsatz haben wollte, um meine Produktion zu stärken und unabhängiger für andere Projekte zu machen und drittens, weil ich immer darunter gelitten habe, dass meine Filme nach ca. 100 Minuten auserzählt sein mussten, in der "Lindenstraße" aber eine Frau z. B. tatsächlich neun echte Monate schwanger sein darf.

Vor der "Lindenstraße" waren Sie ein Filmemacher, der sogar 1978 für den Oscar nominiert war. Wie war für Sie der Wechsel ins TV-Geschäft?
Nicht schwierig. Für mich war TV immer auch Film! Meine ersten Filme wie "Der Fall Lena Christ", "Die Eltern" oder auch "Marie" (damals mit Maria Schell) waren TV-Filme, für mich aber gab es den Unterschied handwerklich nicht. Filmemachen ist Filmemachen. Und jede einzelne Folge "Lindenstraße" ist sicherlich kein Kino, aber ganz klar originärer, kurzer TV-Film mit Fortsetzung, und dies trotz 90 Prozent Studiodreh.

Wie hat Ihr Umfeld damals reagiert?
Keiner oder keine meiner Freunde und kritischen Beobachter oder auch Neider wirklich positiv. Das lag vor allem auch daran, dass "Serie" Mitte der 80er Jahre als Format noch nicht geadelt war und im Vorurteil der meisten Filmemacher nur Schund und schlechtes Handwerk bedeutete.

Ihre Lieblinge in der "Lindenstraße"?
Stellen Sie sich bitte vor, ich würde jetzt sagen, Gung ist meine liebste Figur. Sie würden es mir nicht glauben, und es ist auch besser so.

Immer wieder schafften Sie es auch, schwierige Themen wie den Umweltschutz oder auch schwule Liebe nicht auszugrenzen, sondern in die Handlungen der Serie einzubauen. Für manche Sendeanstalt der ARD war das oft zu viel - vor allem auch für den BR. Wie schwer waren solche Tabubrüche?
Stur dran festhalten, gute Quote haben und überzeugen, überzeugen, überzeugen!

Welche Themen möchten Sie noch aufgreifen?
Genau darf ich das nicht sagen, aber es ist klar, dass die Zeit und die Ereignisse und Probleme, aber auch die Erfolge unseres Landes die Themen in der "Lindenstraße" bestimmen werden und nicht meine solotänzerischen Träume an der Wirklichkeit vorbei ... davor beschützen mich auch immer wieder meine Autoren, die bei der Auswahl der Themen, beim Füllen der Geschichten einen sehr erheblichen Einfluss haben.

Sie sind in Franken aufgewachsen, wo finden sich überall Spuren Ihrer Jugend in der Serie?
Ganz klar ist das Mietshaus in der Lindenstraße 3 so etwas wie eine Nachbildung des Mietshauses in Neustadt/Aisch am Ende der Bismarckstraße mit dem schönen Namen "Tabor". In meiner Kindheit war ich dort glücklich und manchmal auch unglücklich in der Gemeinschaft der Familien in den einzelnen Stockwerken, wo jeder jeden kannte und bis zu 18 Kinder miteinander aufwuchsen. Man wusste genau, wenn es über einem Krach gab oder unter einem jemand einen Lachanfall hatte. Nur Frauen und Omas waren die Erziehungsberechtigten, die Männer waren alle im Krieg gefallen. In der Lindenstraße 3 weht noch ein bisschen der Geist guter Nachbarschaft, den ich damals mit Löffeln schlürfen durfte.

Gab es auch echte fränkische Vorbilder für Figuren wie Else Kling oder Onkel Adi?
Ja, das kann man auch gar nicht vermeiden. Schafft man fiktive Figuren als Autor, kommen ohne jede bewusste Steuerung Vorbilder aus dem Unterbewusstsein aufs Papier und in unserem Fall eben auch auf den Bildschirm. Manche Figuren sind aus zwei oder drei Erinnerungen zusammengebaut, manche sind eiserne Säulen, die ich aber selbst teilweise erst als Onkel Manfred wiedererkenne, wenn sie längst auf dem Bildschirm sind. Bitte bedenken sie aber, dass nicht ich alleine die Lindenstraßen-Charaktere entworfen habe. Da war zum Beispiel am Anfang Barbara Piazza als Erfinderin der Familie Beimer und seit Langem erfinden die heutigen Autoren eigene Figuren hinzu, wenn eine der alten Muppets aus welchen Gründen auch immer gegangen ist. Dass Literatur, aktuelles Leben und Film auch Einfluss auf die Art der Figuren haben können, erübrigt sich wohl zu sagen.

Warum sind Sie überhaupt mit 15 Jahren von zuhause abgehauen? Wie hat Ihre Mutter reagiert?
Besorgt natürlich, aber sie war auch überglücklich, als ich wieder nach Hause kam. Warum ich damals ausgebüchst bin, kann ich nicht mehr genau sagen - besser: Ich bin mir im fortgeschrittenen Alter nicht mehr ganz sicher, ob ich überhaupt ausgebüchst bin oder ob das vor vielen, vielen Jahren am Anfang meiner Filmemacherei nicht ein kleiner Film war, den ich Journalisten und anderen Menschen erzählt habe, da ich mein wirkliches Leben bis dahin nicht weiter erwähnenswert fand. Wenn man eine Geschichte lange genug und mit vielen Details immer wieder erzählt, kommt sie nahe an die Wirklichkeit und wird zur Wahrheit, woran wir leicht erkennen können, wie schwierig es ist, wirklich die Wahrheit zu sagen.

Woher kommt Ihr Drang nach Freiheit und Ihre Kraft, auf Konventionen zu pfeifen?
Ganz sicher aus der "Beobachtung" meiner Mitmenschen als junger Bursche und durch die Chance, mich jeden Tag gegen andere 18 Kinder behaupten zu müssen, was dann ab dem 13. Lebensjahr im Internat weiterhin Alltag wurde und noch verstärkt wurde durch den Widerstand gegen die doofen Älteren! Und ganz sicher auch aus der Zeit: Nicht nur ich, meine ganze Generation wollte unter keinen Umständen in die Fußstapfen unserer Väter treten. Wir mussten uns neu und anders orientieren und neue Werte finden, um nicht durch das generationsübergreifende Gefühl des Schuldigseins gelähmt zu werden oder zu verzweifeln. Und dann waren da die vielen Reisen und die Begegnungen mit "dem Fremden", ja die Umarmung des Fremden als das oberflächlich gesehen tatsächlich Andere und eben nicht Deutsche, - was ja in Wirklichkeit sehr ähnlich war zu den eigenen Bedürfnissen, Ängsten und Freuden. Und meine Mutter und Geschwister förderten den Mut zum Widerspruch, aber auch die Kraft, ihn überhaupt zu leisten.

Welche Gedanken haben Sie an Ihre Jugend in den 50er und 60er Jahren? Was war damals anders, vielleicht sogar einzigartig im Gegensatz zu heute?
Dazu hab ich in den vorhergehenden Antworten schon einiges gesagt, kann aber hinzufügen, dass die bewusste Abkehr von den Vätern etwas war, was heute natürlich nicht mehr gelebt wird. Wir waren frustriert und aus dem Frust erwuchs die Kraft zur Studentenrevolte der späten 60er. Wir konnten mit zehn oder zwölf Jahren - also in den 50ern- nicht einfach Fußball spielen oder auch Fenster einwerfen, ohne den Kummer des Freundes mitzutragen, dessen Vater nach acht Jahren Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückkehrte und die neugebildete Familie, ohne zu wollen, zerstörte und den "neuen Gefährten" seiner Frau aus dem Haus zwang. Wir rauchten getrocknete Lindenblätter und kannten keine Joints, hatten kein Fernsehen und schon gar kein Internet. Manche herrlichen Geheimnisse des Lebendigseins konnten nur durch Taten gelüftet werden oder blieben ewige Vermutungen oder eben geheim. Heute braucht die junge Generation Stärke und viel Kraft, sich all den Informationen vorsichtig zu nähern oder sie zu filtern und nach eigenem Gutdünken aufzugreifen.

Haben Sie als Produzent Abneigungen gegenüber bestimmten Charakteren der Serie?
Nein, ich schätze und liebe sie alle!

Wie sehr nimmt Sie die "Lindenstraßen"-Familie Woche für Woche in Beschlag?
Seit meine Tochter Hana dabei ist, sind das etwa 25 bis 30 Prozent meiner Konzentration, vorher war das täglich Volldampf.

Verspüren Sie keinerlei Sehnsucht, mal wieder etwas ganz Neues zu wagen?
Ich verspüre keine Sehnsucht, weil ich immer mittendrin bin, was Neues zu bauen. Ich hab ja auch eine Firma in UK, und hier in Köln/München entwickle ich mit meinem Team Kinostoffe genauso wie TV-Filme und Dokus oder auch neue Serien. Aber Stoffe und Filmeentwickeln ist das eine, sie tatsächlich zu produzieren dauert manchmal etwas länger.

Sie sind mit Ihren 74 Jahren vom Ruhestand weit entfernt, der Vertrag mit dem WDR für die "Lindenstraße" läuft auf jeden Fall mindestens bis 2016. Wie sehen Ihre Pläne danach aus, schließlich ist Ihre Tochter Hana nun auch im Boot und produziert die Serie mit?
Wir werden zunächst noch zusammen gerne einige Jahre dransetzen und erst wenn Gevatter Tod mich dirigiert, wird Hana die "Lindenstraße" und meine Firma sicherlich weitere 25 Jahre leiten und die Haltung der Serie verteidigen, sollte sie je ernsthaft angegriffen werden.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihr Leben und Ihre nicht immer bequemen oder angepassten Entscheidungen, wie lautet da heute Ihr Urteil über sich selbst?
Ich habe Fehler gemacht, aber ich bereue sie nicht. Nur durch die Fehler hab ich erkannt, was getan werden muss oder sollte.

Und zum Schluss: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort Franken hören?
Liebe zur Landschaft, zu den Karpfenteichen, dem Schilf zum Verstecken der ersten Liebe, den Bratwürsten, den Kirchtürmen und dem Sandstein, der gar nicht zerbrechlich wunderbare Bauten zusammenhält, und Liebe zum Dialekt. Was ist schöner, als einem Ameriganer eine Domade mit frängischem Meerreddich zu serwieren ...?

Das Gespräch führte Peter Groscurth

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