"Wandern macht süchtig"
Autor: Stephan Stöckel
Altenkunstadt, Montag, 22. April 2019
Gerlinde und Siegfried Konrad haben die AWO-Wandergruppe Burgkunstadt seit 1978 geprägt.
"Hereinspaziert in das Franken-Eckla", begrüßt mich Siegfried Konrad. Wände, an denen Erinnerungen aus 40 Jahren hängen, gruppieren sich um eine heimelige Essecke und ziehen mich in ihren Bann. Über einem Aquarellgemälde der Burgkunstadter Oberstadt thronen die Wahrzeichen eines echten Wanderfreundes: ein Stock und ein Hut, verziert mit allerhand Anstecknadeln, die von so manchem Spaziergang durch Mutter Natur künden.
Kapitel "Wanderführer" ist beendet
"Nach 40 Jahren habe ich den Wanderführer an den Nagel gehängt. Am 10. Januar schloss sich bei einer Wanderung rund um Burgkunstadt ein wichtiges Kapitel meines Lebens", öffnet mir der altgediente Wandersmann mit Wehmut in der Stimme sein Herz. Seine Frau Gerlinde gesellt sich hinzu. Sie war Jahrzehntelang eine stramme Wanderin, bis ihr ein Beinbruch im Jahre 2005 eine neue Aufgabe zuwies. Dieser widmet sich die Burgkunstadterin mit großer Hingabe. "Gestatten, ich bin die Marketenderin, die bei den Wanderungen für die Bewirtung sorgt", stellt sich die 76-Jährige vor.
Sie und ihr Mann Siegfried sind die Gesichter der AWO-Wandergruppe Burgkunstadt. Beide haben die Entwicklung der Gruppe seit der Gründung im Jahre 1978 maßgeblich mit geprägt. Ihre Gedanken nehmen mich mit auf Wanderschaft in eine Welt, in der auf Schusters Rappen die Schönheit der Natur erkundet wird. "Wandern macht süchtig!", sagt Gerlinde Konrad im Brustton der Überzeugung. Das ist positiv gemeint. Wenn man die Wanderstiefel anziehe, dann schlüpfe man in eine andere Rolle. "Dann fallen alle Alltagssorgen von einem ab", spricht sie ihrem Gatten aus der Seele. Sie und ihr Mann empfinden Wandern als etwas Befreiendes. Sie hat den Blick für das Große und Ganze, er für das Kleine, an denen andere achtlos vorübergehen. "Wenn ich meinen Blick über die Landschaft schweifen lasse, dann sauge ich deren Schönheit auf, bin ich wie verzaubert."
Farbtupfer im Alltag
Schwärmerische Gedanken, die Gerlinde Konrad von ihren Ausflügen mitnimmt und die ihrem tristen Alltagsgrau bunte Farbtupfer verleihen. Ihren Ehemann, den Gerlinde als "Fotomensch" charakterisiert, lässt das "Blümla am Straßenrand" innehalten. "Ich muss es auf die Linse bannen", sagt der 76-Jährige. Der perfekte Wanderweg muss für ihn nicht zum höchsten Gipfel führen. Abwechslungsreiche Wanderungen durch Deutschlands Mittelgebirge zieht er hochalpinen Wandertouren vor, bei denen es nur einmal hinauf und einmal hinab geht. Wie sagte doch einst der Philosoph Friedrich Nietzsche über das Wandern? "Am schönsten sieht die Welt von halber Höhe aus." Eine Erkenntnis, die der Borkuschter Wanderer aus vollem Herzen teilt.
Naturgenuss statt Trophäenjäger
Wir schreiben das Jahre 1978. Internationale Volkswanderungen sind groß in Mode. Immer auf der Jagd nach der nächsten Plakette wird von einer Großveranstaltung zur nächsten gehetzt. Doch Siegfried Konrad ist kein Trophäenjäger. "Mir lag der Naturgenuss und das Erkunden einer bestimmten Gegend am Herzen", beschreibt er seine Vorstellung vom Wandern in der Gemeinschaft. Gesagt, getan. Am 22. Oktober 1978 bricht die neunköpfige Wandergruppe der AWO zu ihrer ersten Wanderung auf - einer 30 Kilometer-Tagestour rund um den Kordigast. Unzählige folgen. Man wandert auf dem fränkischen Bibelweg von Untermerzbach nach Seßlach, verlebt zwei erlebnisreiche Tage auf dem Pfaffenritt zwischen Königsfeld und Breitbrunn.
Jede Tour vorgewandert
Schon lange vor Hape Kerkeling hatte man in Etappen den Jakobsweg von der tschechischen Grenze bis nach Ludwigshafen am Bodensee erkundet. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Hunderten von Wanderungen, die er und seine Gattin in den vergangenen vier Jahrzehnten unternommen haben. "Damit alles reibungslos verläuft, habe ich jede Tour vorgewandert", erklärt Siegfried Konrad. Gezählt hat er die Kilometer nicht. Aber eine Erdumrundung dürfte schon zustande gekommen sein, schätzt der 76-Jährige. Die Stadt Burgkunstadt hat den AWO-Wanderern viel zu verdanken. Insgesamt 60 Kilometer Wanderwege wurden 1980 und 1990 angelegt und ausgeschildert.
Mit der Hand malte Konrad zwei Wandertafeln für die Wanderparkplätze in Ebneth und Mainroth. Auch viele Hinweisschilder wurden von ihm beschriftet. "Meinem Mann kam sein Beruf als Porzellanmaler zugute, den er bei der Firma ‚Alboth & Kaiser‘ in Bad Staffelstein erlernt hatte", klinkt sich seine Frau ein. Inzwischen sind die sieben Wege in das Wanderwegekonzept des Landkreises Lichtenfels integriert. Siegfried Konrad war seit Gründung der Wandergruppe vier Jahrzehnte lang als Wanderwart tätig. Das Loslassen viel ihm nicht schwer. "Ich bin Realist und weiß, dass irgendwann einmal die Gelenke nicht mehr mitmachen." Beratend sind er und seine Frau noch immer tätig. Wie zum Beweis klingelt immer wieder das Telefon. Angst und Bange um die Zukunft der Gruppe, die Wanderer aus ganz Oberfranken anzieht, haben die zwei nicht. An den Donnerstagswanderungen beteiligen sich derzeit rund 35 bis 40 Personen, an den großen Touren am Sonntag nehmen 15 bis 20 Frauen und Männer teil. "In den vergangenen Jahren ist das Wandern bei uns richtig explodiert. Die fitten Alten sind keine Stubenhocker. Sie wollen raus an die frische Luft", hüpft Siegfrieds Wanderherz im Frankeneckla vor Freude. Und das seiner Frau dazu.