Ragnarök in Lichtenfels: Doktoranden und Dosenbier
Autor: Markus Häggberg
Lichtenfels, Sonntag, 12. April 2015
Das Festival Ragnarök in Lichtenfels lockt die unterschiedlichsten Menschen an. Vielen ist die Atmosphäre dort wichtiger als die Musik. Alkohol und Schweiß fließen in Strömen - speziell beim Flunkyball.
Jung sein, albern sein, anders sein. 4500 Pagan-Metal-Fans strömten am Wochenende nach Lichtenfels. Sie schlugen ihr Lager rund um die Stadthalle auf oder bezogen Hotels und Pensionen. Auf dem Festivalgelände trafen sie sich. Und eben dort boten sie uneinheitliche Einblicke in eine Popkultur am Rande des Mainstreams: Laptop und Wikingerkult, Saufkultur und Übermut, Stil, Bildung, Vulgarität und Heavy-Metal.
Paul kocht. Es ist Samstagvormittag und der Mann mit dem langen Haar steht am Gaskocher beim Zelt. Seine Clique hat die Fahne ihres Bundeslandes Sachsen gehisst. Nun steht Paul da, in Sonnenbrille, Cowboystiefeln und Frotteebademantel, mit einem Martini in einem Martiniglas. Seine Vermutung: Der Bildungsstand auf Metal-Festivals könnte vergleichsweise höher sein. Der 24-Jährige studiert Chemie, zwei seiner Freunde sind sogar Doktoranden auf selbigem Gebiet.
Baseball für Biertrinker
Alle haben sie lange Haare, Kampfnamen und verfolgen eine Absicht auf dem Ragnarök-Festival: Flunkyball wollen sie spielen, ein Art Baseball für Biertrinker. Wer daneben wirft, gibt den Spielern der gegnerischen Mannschaft Zeit und Gelegenheit, eine Dose Bier auszutrinken. Dose leer heißt gewonnen. Geschicklichkeit, Zielgenauigkeit, Schnelligkeit und Schluckvermögen bilden die Säulen dieser "Sportart". Das kann man trainieren, meinen Paul alias Stecker, Specht, Roadie und Feuer. Sogar ein Trainingslager hätten sie schon bestritten und überhaupt haben sie eine Facebook-Seite und nennen sich professionell. "Wir sind organisiert und nehmen an regionalen Matches teil", erklärt Paul. Über 200 Spiele ungeschlagen. Das kommt nicht von ungefähr, meint Roadie, angehender Doktor der Chemie. "Wir sind Wissenschaftler und im Trainingslager saß ich da mit Klemmbrett und schrieb (die Zeiten etc.) auf - sobald man aufschreibt, ist es Wissenschaft." Beim Duell gegen eine gegnerische Mannschaft kotzt deren Mitspieler gegen den Zaun.
Hannes und Hannes mögen einander. Besonders, seit sie sich Watschen gaben. In dem Gedränge der Zelte auf dem Fußballplatz hinter der Stadthalle begegnet man auch ihrem Lager. Hier sitzt auch Pascal. Er ist Fachinformatiker für Systemintegration und trinkt sein Bier. Wenn Johannes und Johannes erzählen, dann muss er grinsen. Der eine Johannes gibt zu bedenken, dass der 21. Geburtstag der letzte sei, von dem man noch profitiere. Ab da würde man ohne weiteren Rechtszugewinn nur noch älter.
Beginn einer Freundschaft
Der andere sich Hannes nennende Johannes hört aufmerksam zu und beschließt, erst zum 30. Geburtstag Johannes gerufen werden zu wollen. Die beiden Männer, der eine aus Bamberg, der andere aus Darmstadt, hätten vor Jahren bei dem Versuch, sich gegenseitig ein Zehn-Cent-Stück aus der Gusche zu watschen, ein geplatztes Trommelfell bewirkt. Das des Bambergers.
Aber weil man den Jux einvernehmlich und gegenseitig tat, band das eher noch, als dass es trennte. Heute ist man befreundet und dieses Spiel, so wie Flunkyball auch, sei nicht unüblich auf derlei Festivals. Bier spielt auch hier eine Rolle, so wie überhaupt unendlich viele Bierdosen auf dem Rasen verstreut liegen. Manche wurden kunstvoll in die Zäune drapiert und bei diesem Anblick kommt dem Betrachter in den Sinn, dass Jugend, Musik, Übermut und Alkohol immer Nähe zueinander suchten. Oder wie lautet der berühmte Satz über Woodstock: Wer sich daran erinnert, war nicht dabei! Eli und Rabea sind dabei und werden sich erinnern. Die beiden jungen Frauen sitzen im rechten Winkel zu Pascal, die eine studiert Philosophie, die andere Japanologie in Heidelberg. Wer sich ganz sicher erinnert, ist der erklärte Antialkoholiker und Nichtraucher der Runde. Trotzdem, so erzählt er, habe er es vermocht, in den vergangenen acht Jahren vier Autos zu Schrott zu fahren.
Danelag Wikinger steht auf der Visitenkarte und bedeutet dänisches Gesetz. Eine Gruppe junger Menschen aus Laudenbach in Baden-Württemberg hat ihr Lager aufgeschlagen und eine junge Frau näht in mittelalterlicher Kluft, während die Basstrommel der Band Cryptic Forest aus der Stadthalle dröhnt.
Hobbyisten nennt man Menschen, die originalgetreue Gewänder tragen und in die von ihnen für besonders empfundene Zeit auch modisch und handwerklich eintauchen.
Das 9. und 10. Jahrhundert hat es ihnen angetan und am Freitag unterhielten sie vor der Stadthalle mit Wikinger-Schaukämpfen. Auch sie grillen und eine junge Frau setzt sich vor ein Zelt und beginnt ein Buch zu lesen: Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn, erschütternde Weltliteratur.
Hände wie Bratpfannen
Hinter ihr ein Wikinger, der am historischen Zelt sitzend die Zeitung studiert. Ein anachronistisches Bild, durch und durch. Aus anderem Holz scheint Lars aus Schmalkalden zu sein, mit Händen wie Bratpfannen so groß, ein Abrissunternehmer, der einen Reisebus für Konzertbesuche flott gemacht hat. Er und seine Jungs fahren zu Konzerten in ihrem umgebauten Kassbohrer Setra von 1969. Die eigene Couchgarnitur haben sie dabei und sie stellen sie unters Bus-Vordach. Heute interessiert sie wohl nur eine der insgesamt 26 auftretenden Bands in der Stadthalle.
Und manche Festivalbesucher gehen nicht einmal zu den Bands, sondern wollen nur die Atmosphäre erleben. Der schönste Tag, so sagen viele, sei der Freitag. Es ist schon Festival-Tag, aber der Höhepunkt steht noch bevor. Es ist wie die Vorfreude auf den Sommer in einem schon warmen April. Oder wie der Spaß an den Albernheiten junger Jahre vor einem 30. Geburtstag.