Druckartikel: Ragnarök in Lichtenfels: Alter schützt vor Metal nicht

Ragnarök in Lichtenfels: Alter schützt vor Metal nicht


Autor: Markus Häggberg

Lichtenfels, Sonntag, 23. April 2017

Die bedingungslose Leidenschaft für dezibelgeschwängerte Rockmusik erfasst manche noch im Rentenalter.
Der hat doch so'n langen Bart: Dietmar Schneider kommt aus Finsterberge, einem Ort, der so heißt, wie eine Band auf dem Festival heißen könnte. Er will durch Heavy-Metal jung bleiben und (be-)sucht das Neue in den Musikströmungen.  Fotos: Stephan Stöckel


Zum elften Mal fand an diesem Wochenende das größte Metal-Festival seiner Art in Lichtenfels statt: Ragnarök, was so viel wie Weltenbrand bedeutet. Der Heavy Metal feiert die nordische Götterwelt und Bands tragen Namen wie Asenblut oder Elvenking. Was sie gemeinsam haben sind Dezibel. Doch Vorsicht: Die Leidenschaft für Heavy Metal kann auch noch im gesetzteren Alter ausbrechen. Der FT macht sich auf die Suche nach den Ü-60.
Bald 70 Jahre alt soll er sein und auf dem Gelände umhergehen: bärtig, grau, mit langem Haar. Wer ihn sah, spricht etwas bewundernd von ihm. Ist es der Mann da drüben am Souvenir-Stand mit den Trinkhörnern vor der Stadthalle? Oder der am Bierausschank in der Stadthalle? Graue Panther gibt es einige auf dem Festival. Doch obacht: manche sehen älter aus, als sie sind. Takt ist gefragt.
54 sei sie, so die schwarzgewandete Dame aus dem Thüringer Raum. Man hätte sie älter schätzen können und gut nur, dass sie von selbst auf ihre 54 zu sprechen kam. Aber was noch mehr erstaunt, ist, dass sie eine Spätberufene in Sachen Heavy-Metal ist. Mit 50 begann sie sich für Double-Bass-Drum und allerschnellste laute E-Gitarren-Soli zu erwärmen. Hartmut Wiegmann erging es ähnlich, nur in noch späteren Jahren. "Ich fahre von einem Festival zum anderen. Ich fahre immer alleine, meine Frau hat nicht so das Interesse für Heavy-Metal", erzählt der 63-jährige Norddeutsche. Und es ist interessant von ihm zu hören, wie er mit 58 zum Heavy-Metal kam. "Ich war bei der Bundeswehr im mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst und habe Rechnungsführer ausgebildet. Ein Arbeitskollege schrieb nebenbei CD-Kritiken und hörte während der Arbeitszeit Metal. Da hat es gefunkt, da wurde Wiegmann hellhörig." Nun ist er drin in der Szene, hat einen Terminkalender voller Einträge und Notizen zu Festivals, tourt mit seinem VW-Touran durch die Republik und hat sogar einen Szenenamen: Magic Harry. Und er zählt auf: südlich von Bremen, irgendwo in Hessen, Magdeburg, Headbanger in Hamburg, Emden, Wacken ... hauptsächlich der Norden bietet ihm Heimspiele. In Lichtenfels ist er erstmals und zeigt sich angetan vom Ragnarök. Von Luxus, Pension und Hotel, wie es weit jüngere Besucher in Anspruch nehmen, hält er nichts. Er hat schon 1970 Jimi Hendrix in Fehmarn gesehen, jenem legendären letzten Auftritt von Hendrix überhaupt. Magic Harry ist ein altgedienter Rocker und möchte jung bleiben. Auch beim Campen begibt er sich in die Gesellschaft junger Leute . "Ich suche mir immer Leute, die einen Pavillon haben - damit ich nicht alleine im Auto sitzen muss." Demnächst plant er Umbauten in seinem VW-Touran, in den er ein anderes Bett einbauen mag. Was ihn am Metal reize, seien die "zig verschiedenen Richtungen zwischen Old School, Power Metal und Speed". Zu vererben hat er nix, da keine Kinder. Also will der Pensionär Magic Harry sein Geld ausgeben - auch auf und für Festivals.
Ob Dietmar Schneider, immerhin grau und bärtig, der ominöse 70-Jährige ist? Ist er nicht. Er ist ein bald 61-Jähriger aus Finsterbergen in Thüringen. Seine Wurzeln sind die Rolling Stones und Cat Stevens. "Mit 14 war Flower Power", erklärt er. Dann aber, vor sieben Jahren, wurde er für Speed- und Power-Metal empfänglich. "Mein Sohn hat gesagt: Papa, hör' Dir das mal an." Sein Sohn Stephan steht neben ihm und zeigt sich stolz auf seinen Papa, der sich in einem Alter, wo andere zu den Amigos oder Helene Fischer überlaufen, gar "für Schranz begeistert" hat. Schranz - eine minimalistische elektronische Tanzmusik mit 140 bis 160 BPM (Schlägen in der Minute). "Mein Papa ist zeitlos und immer interessiert an Neuem"" sagt Stephan. "Ich lass' mich nicht einordnen", sagt Dietmar. Hier spielen etliche seiner Lieblingsbands, so wie "Dornreich" oder "Harakiri for the Sky". "Die bringen viel Gefühl rüber", fasst der Oldie zusammen.
Ja, er glaubt, dass es zwischen einem Älterwerden und einem nachlassenden Interesse an musikalischen Neuströmungen einen Zusammenhang geben könnte. Aber wo auf diesem Festival-Gelände dieser 70-Jährige ist, kann auch er nicht sagen.

Anzahl 36 ehrenamtliche Rotkreuzler des BRK-Kreisverbandes Lichtenfels haben die sanitätsdienstliche Absicherung auf dem Ragnarök-Festival in Lichtenfels übernommen.

Bilanz Beim viertägigen Ragnarök-Festival von Donnerstagnachmittag bis Sonntagvormittag wurden über 450 Einsatzstunden geleistet. Die Hilfskräfte waren im Drei-Schicht-Betrieb im Dauereinsatz und übernahmen die Behandlung von 51 Festivalbesuchern. Acht Krankentransporte ins Klinikum Lichtenfels waren notwendig.

Fazit BRK-Kreisbereitschaftsleiter Bernd Albert zog ein positives Resümee. Gerade die mobile BRK-Rettungsstation und der umgerüstete Einsatzleitwagen ermöglichten eine noch schnellere und professionellere Behandlung. red
Das elfte Ragnarök-Festival ist Geschichte. Die "Schwarzkutten" des Heavy-Metal-Festivals sind abgereist. Aber viele von ihnen haben etwas in Lichtenfels gelassen: Dosen- und Flaschenpfand. Der FT begleitet einen professionellen Sammler.
Nennen wir ihn Max. Woher er genau kommt, möchte er nicht sagen. Wie er genau heißt, erst recht nicht. Dass er über 40 ist, gibt er gerne zu, aber ob er schon an den 50 kratzt, mag er auch nicht mitteilen. Nicht etwa darum, weil die Frage danach indiskret wäre, sondern die Antwort womöglich verräterisch. Max ist ein Dauergast bei Ragnarök, und was er tut ist ein wenig halbseiden und steuerfrei: Dosenpfandsammler.
Max trägt ein Käppi und Arbeitsschuhe. Ob sie bequem sind, weiß nur er. "30 Kilometer an Spitzentagen", sagt der Mann, lege er auf dem Festival-Gelände zurück. Dabei ist sein Blick zumeist auf den Boden gerichtet. In gewisser Weise ein Tunnelblick, aber einer, der auch aus den Augenwinkeln wahrnimmt. Ein 13., 14., 15. Monatsgehalt erarbeite er sich auf diese Weise. Weil er aufhebt, was andere auf Festivals liegenlassen, wegwerfen oder ihm sogar bereitwillig anbieten: Getränkedosen mit Pfand. Einmal bücken - 25 Cent.
"Es ist eine symbiotische Geschichte", holt Max aus. Festival-Veranstalter hätten erkannt, dass man Leute wie ihn gewähren lassen könne, da sie auf ihre Weise dazu beitragen, den bei Festivals anfallenden Müll zu verringern. Und immerhin stehen Veranstalter nicht selten in der Pflicht, solchen auf den Geländen zu beseitigen. "Manche Dosenpfandsammler gehen Deals mit Veranstaltern ein", weiß er. Er selbst tue das nicht, denn er kaufe sich stets die Eintrittskarten für Festivals.


Ein relativ bekanntes Gesicht

Wir gehen Seite an Seite auf dem Oval der Aschenbahn des Sportplatzes hinter der Stadthalle. Hier ist der Zeltplatz des Ragnarök-Festivals, hier lebt für zwei, drei Tage ein Großteil der maximal 4500 Gäste. "Man braucht zwei, drei Jahre, um sich eine Vertrauensbasis aufzubauen", führt Max aus, "einen langen Atem". Nach zwei, drei Jahren, meint er damit, sei man schon bei vielen Besuchern ein relativ bekanntes Gesicht, einer, der mit ihnen freundlich und höflich ins Gespräch kam. Vertrauensbildende Maßnahme sozusagen, denn er möchte nicht in falschen Verdacht geraten, sobald etwas passiert, was auf solchen Festivals auch immer wieder mal geschehen könne: jemand vermisst etwas aus seinem Zelt, aus seiner Habe.
Wir drehen unsere Runde und betrachten die Bierdosen, die auf dem Gelände des Tennisclubs jenseits des Absperrungszaunes liegen. "Unerreichbar nah?", sage ich herausfordernd. Max winkt ab und hebt mal wieder eine Dose auf. Während wir sprechen, scannt er die auf dem Boden liegenden Dosen beiläufig und mit erstaunlicher Präzision nach Pfandsiegeln ab. Er kennt die Marken, kennt die Import-Dosen ausländischer Gäste und weiß, dass ausländische Dosen in Deutschland keinen Wert besitzen. "Es ist wie eine Sucht", erklärt er sein deutschlandweites Tun, zu dem er im Jahr auf bis zu 15 Festivals ausrückt. Dafür nimmt er Urlaub und 460 Kilometer Anfahrtswege in Kauf, dazu noch die Eintrittspreise. Und doch kommt unterm Strich ordentlich was raus? "Genau", bekräftigt Max schmunzelnd.
Überhaupt zeigt er sich unzufrieden mit dem deutschen Steuersystem. Man zahle zu viel, würde geschröpft, arbeite für den Staat. Darauf habe er keinen Bock. Dass er in einer Grauzone unterwegs ist, weiß er gut. Aber er ist nicht allein. Der Grund nämlich, weshalb er nicht nur seinen Namen nicht nennt, sondern sich auch nicht fotografieren, Angaben zu Alter oder gar Wohnort machen möchte, liege an der Missgunst seiner Kollegen auf anderen Festivals. "Die (Pfandsammler-)Szene kennt sich", so Max. "Beobachtet sich und zeigt sich womöglich an?", frage ich. "Ja", antwortet er.
"Es ist wie eine Sucht" - der Satz arbeitet und hallt nach. Süchte wollen gelebt und womöglich gesteigert werden. "Ich führe eine Excel-Tabelle über meine jährlichen Einnahmen", führt Max hierzu aus. Das klingt nach Logistik. Und er erzählt von Datenauswertung und von langen Abenden, an denen er daheim vor dem Fernseher sitzt und mit einem Gegenstand plattgedrückte Dosen ausbeult, damit ein Scanner im Supermarkt das Pfandsiegel wieder lesen kann. Als ich Max auf eine Cola-Plastikflasche aufmerksam mache, winkt der Logistiker und Statistiker in ihm ab: "Die nimmt zu viel Platz im Beutel weg", erklärt er mir. Seine Logistik berücksichtigt den Cent-Bereich. So denken und kalkulieren Profis. Aber auch sie wissen: der erste Festival-Tag ist der beste. Da sind die Gäste ausgelassen und pfandspendabel. Am zweiten schon besinnen sie sich und die Einkünfte werden schmaler. Der "Arbeitstag" aber bleibt gleich lang. Er liegt so um die 18 Stunden.