Lichtenfelser Chronologie einer Unbegreiflichkeit
Autor: Markus Häggberg
Lichtenfels, Donnerstag, 28. Juni 2018
Scheiden tut weh, ausscheiden erst recht. Am Mittwoch endete mit dem Aus der Nationalmannschaft auch das Unternehmen Titelverteidigung auf dem Marktplatz.
Die Stimmung zum Spielanpfiff um 16 Uhr war gut und Deutschland-Trikots überall. Es lag die Erwartung über dem Platz, gegen 17.45 Uhr freudig aufzuspringen, gemeinsam zu feiern, zu jubeln, im Achtelfinale zu stehen. Die 68 seit WM-Beginn hier aufgebauten Biertische samt Bierbänken waren voll besetzt, was schon allein über 500 Zuschauer garantierte. Und wer hier keinen Sitzplatz mehr fand, der holte sich Stühle von einem zu dieser Uhrzeit noch nicht geöffneten Lokal herbei. Andere findige Fußballfans trugen gar das Stadtmobiliar zusammen und schufen sich mit diesen Bänken eine behelfsmäßige Loge, ganz nah an der Leinwand. Wer jetzt noch keinen Sitzplatz fand, der stand und säumte ein U bildend den Platz. Auch das waren einige Hunderte.
Dann, gegen 16 Uhr, standen alle: Die Hymne wurde gesungen und so mancher legte die Hand ans Herz. Die Erwartungen an die Höhe des Sieges waren eher gedämpft, die Erwartungen an den allgemeinen Ausgang des Spiels nicht: Sieg. Aber ein Versprechen gab es doch: So viele Tore für die Nationalmannschaft fallen, so viele Tore wollten Bürgermeister Andreas Hügerich und Moderator Frank Ziegler Bälle verschenkend ins Publikum schießen. Dann sollte nichts passieren, eine quälende Halbzeit lang bot eine verhaltene Mannschaftsleistung keinen Anlass zum Jubeln. Im Gegenteil: In der 19. Minute zeigte sich Tormann Manuel Neuer unsicher und ein Platz hielt den Atem an.
In der Halbzeitpause zeigte sich Bürgermeister Hügerich ob des Spielausgangs optimistisch und rechnete mit einer Einwechslung Julian Brandts. "Brandt war schon immer gut für Deutschland", scherzte der SPD-Mann gekonnt. Doch als Brandt gegen Spielende kam, lagen schon Enttäuschungen hinter den Zuschauern - zwei, drei gute Tormöglichkeiten wurden nicht genutzt, immer aber sprangen Hunderte hoffend auf. Nun aber lief die Zeit davon, denn nur ein Sieg half Deutschland ins Achtelfinale.
Eine Mischung aus Hoffen und Bangen legte sich über den Platz, auch eine vorauseilende Resignation kam hinzu. Doch als der Kommentator erklärte, dass es sechs Minuten Nachspielzeit geben würde, keimte wieder Hoffnung auf, man war bereit, an ein Wunder wie das von Kroos wenige Tage zuvor verursachte zu glauben. Dann das gemeinschaftlich durchlebte Entsetzen, als Südkorea in der 92. Minute ein Tor schoss, dann das kollektive Wechselbad der Gefühle, als der Schiedsrichter wegen möglicher Abseitsposition erst den Videobeweis einforderte und das Tor dann doch gab. Entsetzte Blicke im Publikum, Menschen winkten ab, viele ließen die Köpfe hängen, Kinder blickten traurig, ein Mann rollte seine Fahne ein, das Bewusstsein, einem schmerzhaft historischen Moment beizuwohnen, war angekommen. Niemand hier auf dem Platz, so alt er auch sein mochte, hat jemals ein deutsches Nichterreichen des Achtelfinals erlebt. Dann fiel sogar noch das 0:2.
Aus, aus, das Spiel war aus und einer allgemeinen Einschätzung folgend, hat sich das Thema Public Viewing damit auf dem Marktplatz auch erledigt. Wer soll noch kommen und Spiele ohne deutsche Beteiligung betrachten? Der Platz leerte sich schnell, übrig blieben am Boden verstreute Klatschpappen und schwarz-rot-goldene Papierschnipsel. Bänke wurden zusammengeklappt - Kehraus. Die WM ist vorbei.
Nur zwei Elfjährige namens Josephine Hornung und Justin Schramm fragten bei Andreas Hügerich um Bälle an. Die bekamen sie auch - mit einem Lächeln.