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Hungern bis in den Tod: Essgestörte der Staffelsteiner Schön-Klinik berichten


Autor: Anja Greiner

Bad Staffelstein, Montag, 22. Juni 2015

Lara Weisenbach und Lisa Auer könnten unterschiedlicher nicht sein und doch gleichen sich ihre Geschichten in einem Punkt: Sie versuchen ihr Leben durch Hungern in den Griff zu bekommen. Protokolle zweier Süchtiger.
"Unsere Patientinnen sind alle Extremisten", sagt Körpertherapeut Bernd Eggers. Mit den Holzschwertern sollen Lara Weisenbach (vorne) und Lisa Auer (hinten) in der Schön-Klinik in Bad Staffelstein lernen, das richtige Maß zu finden.  Foto: Anja Greiner


Lara Weisenbach war 17 Jahre alt, als sie auf einer Geburtstagsfeier einer Freundin zu viel gegessen hatte. An dem Abend erbrach sie sich zum ersten Mal.

Heute ist Lara Weisenbach 24 Jahre alt und sitzt im Konferenzraum im zweiten Stock der Schön-Klinik in Bad Staffelstein, blonde Haare, offenes Gesicht. In ihren schlechtesten Zeiten wog sie 40 Kilo bei einer Körpergröße von 1,70 Meter. Hier in der Schön-Klinik ist sie bereits zum siebten Mal. Sie lacht viel, während sie ihre Geschichte erzählt.

Ein Gefühl, wie nach einem Mord

Lara Weisenbach war immer schon schlank, betrieb Volleyball als Leistungssport, mit 16 Jahren hatte sie noch keine Regelblutung. Sie wollte fraulicher sein, begann mit der Pille und nahm zehn Kilo zu.

Irgendwann kam die Stimme die sagte: Wie konntest du nur? Wie konntest du dich so gehen lassen?

Jeder Gedanke dreht sich fortan nur noch ums Essen. Ihre Mutter beginnt sie zu kontrollieren, es gibt jeden Tag Streit.

"Keiner hat gesehen, dass ich krank bin. Sie haben zwar immer gesagt: Du bist doch krank! Aber wirklich so gemeint hat es keiner."

Wenn sie erbricht lässt sie im Badezimmer das Wasser laufen.

Manchmal, sagt sie, habe sie jeden Tag ein bisschen was rausgelassen, manchmal erbrach sie nur einmal in zwei Wochen.

Immer kommen danach die Schuldgefühle. Man denkt, sagt sie, es sei etwas schlimmes passiert. "Wie wenn ich jemanden umgebracht hätte."

"Ich kann nicht mehr leben"

Irgendwann wollte sie nicht mehr erbrechen. Also beschließt sie, so wenig wie möglich zu essen. Krank? Nein, sie doch nicht. "Ich habe doch alles im Griff."

Sie beginnt ein Studium, zieht von zu Hause aus, wird nicht mehr kontrolliert. Es wird nur noch schlimmer. "Es gab diesen einen Tag, da wollte ich alles anders machen, wollte essen, aber ich konnte einfach nicht, nicht einmal einen Apfel."

Da, sagt sie, habe sie das erste Mal begriffen, dass sie krank ist. "Ich kann nicht mehr leben", hatte sie damals gedacht. Ihr ganzer Körper schmerzte, ihr war schwindelig, sie konnte kaum aufstehen.

Sie ging zu ihrem Hausarzt, der schickte sie in eine Klinik, dort wurde sie abgewiesen: Sie sei zu untergewichtig. Sie suchte nach einer anderen Klinik, fand eine - mit einem halben Jahr Wartezeit. "Bis dahin ist meine Tochter tot", hatte ihre Mutter damals gesagt. Schließlich kommt sie nach Bad Staffelstein. Das war 2012. Es folgen sechs weitere Aufenthalte und Rückfälle.

Mittlerweile gibt es zwei Stimmen. Die der kranken Lara, die ihr Vorwürfe macht, wenn sie zunimmt und die der gesunden Lara, die weiß, dass sie keine Schuldgefühle haben muss, wenn sie isst.

Wenn sie am 7. Juli entlassen wird, zieht sie in eine betreute Wohngruppe. Die Chance, dass sie es diesesmal schaffe sei fifty-fifty.

Der Tod isst mit

Es ist fünf vor zwölf. Die Magersucht und Bulimie-Patientinnen treffen sich im Foyer der Schön-Klinik. Von der Eingangshalle bis zum Speisesaal ist es nicht weit. Doch für die meisten der 50 Patientinnen könnte der Weg wohl gar nicht lang genug sein.

Drei Tischreihen sind am Ende des Speisesaals für die Patientinnen mit Essstörungen reserviert. Räumlich liegen ein paar Schritte zwischen den Tischen. Zeitlich sind es Wochen. Überlebenskampf mit Sitzordnung.
Wer am Fenster sitzt, darf alleine essen, ohne Betreuer. Essen mit Aussicht.

In der Mitte wird beobachtet: auf den Teller darf kein Salat, keine Gewürze und am Ende muss alles leer sein. Essen mit Aufsicht.

Eine Viertelstunde später, um 12.15 Uhr, kommt die vorderste Reihe, abgemagert bis auf die Knochen, von einer Psychologin begleitet. Essen mit Angst.

Von allen psychischen Erkrankungen ist die Essstörung die tödlichste. Je nach Studie beträgt die Sterblichkeitsrate zehn bis zwanzig Prozent. Viele sterben an Herzversagen.

Osteoporose mit 30 Jahren

Lisa Auer hat Spaghetti Bolognese mit Salat gegessen, ab und zu aus dem Fenster geblickt. "Das Essen hier ist wahnsinnig gut", sagt sie, "Auch die österreichischen Speisen". Lisa Auer ist 31 Jahre alt, kommt aus Wien, spricht mit Akzent und wiegt derzeit 52 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,79 Meter.

Sechs Kilo mehr als vor zwei Monaten, als sie hier ankam.

Sie war Leiterin der Personalabteilung beim Roten Kreuz. Als sie beim Erste-Hilfe-Kurs einen Hundert Kilo schweren Mann in die stabile Seitenlage hieven sollte, rutschte sie ab und brach sich einen Wirbel, als sie mit dem Rücken auf den Boden knallt.

Das war im November 2014, damals war sie seit sieben Jahren Magersüchtig, wog gerade mal wieder 46 Kilogramm. Irgendwann werden die Knochen weicher. Osteoporose. Eigentlich eine Alterskrankheit. Da wusste sie, so geht es nicht weiter.

Morgens um acht auf die Waage

Am 28. April kam sie in die Schön-Klinik nach Bad Staffelstein. Ihr dritter Klinikaufenthalt, der erste mit strengen Essensregeln. 700 Gramm muss sie in der Woche zunehmen, morgens um halb acht wird gewogen.

Lisa Auer hat einen braunen Bob, das Haar ist voll - unüblich für die Krankheit, die Haare gehen meist als erstes aus. Da habe sie wohl eine gute Veranlagung, sagt sie und lacht. Sie spricht überlegt, reflektiert. Manchmal so, als wäre es gar nicht sie selbst, über die sie spricht, als betreffe sie das Ganze gar nicht. Schließlich kam sie bisher im Alltag immer mit allem zurecht.

Sie gefällt sich selbst nicht. Ihre Hände und Füße findet sie zu dünn. Dennoch, seit sie in der Klinik zugenommen hat, gebe es Tage, an denen sie mit ihrem Hintern kämpfe. Ihre Mutter hatte sie früher immer gewarnt: pass' auf, dass dein Hintern nicht zu groß wird. Das hat sich eingebrannt.

Wenn die Psyche streikt

Lisa Auer war immer schon schlank. Vor sieben Jahren, kam plötzlich der Knick. Im Job fehlte die Anerkennung, die Beziehung zu ihrem Freund kriselte, um die Aggressionen loszuwerden begann sie Sport zu treiben. 20 Kilo nahm sie innerhalb eines Jahres ab.

Am Ende aß sie nur noch drei Äpfeln am Tag. Irgendwann konnte sie nicht mehr Treppen steigen.
Der Körper war ihr da schon lange egal. Im Spiegel hat sie sich nicht mehr angeschaut.
Dünn bedeutete nicht schön, es bedeutete Kontrolle.

Letzter Schritt: Zwangsernährung

Das Gefühl von Erfolg, wenn die Zahl auf der Waage immer kleiner wurde - ein Gefühl, dass ihr sonst keiner geben konnte, nicht der Job, nicht ihr Freund. Abhängig von zwei Nummern.

Bis die Zahl im Display nur noch 38 Kilo zeigt. Sie ruft im Krankenhaus an, sagt, sie brauche Hilfe, sie fühle sich immer so schwach. Auf Nachfrage nennt sie Gewicht und Körpergröße. Sie soll sofort in die Klinik kommen, sagt die Stimme am Telefon. Ich muss noch Arbeiten, sagt Lisa Auer, ob sie nicht danach kommen könne. Nein, sofort. Sie muss mit einer Sonde ernährt werden, bei der Entlassung wiegt sie wieder 45 Kilo.

Es folgt ein neuer Job und alles geht von vorne los. Sie sagt sie sei ein Perfektionist, definiere sich über ihren Job. Bleibt die Anerkennung aus, gerät ihr Leben aus den Fugen.

Es ist das Wesen der Krankheit: Nicht nur der Körper verändert sich. Sie wurde bockig, gereizt, jede Kleinigkeit brachte sie zum Ausrasten. Manchmal, sagt Auer, wisse sie gar nicht mehr, wie sie früher war. Ihr Freund erzählt es ihr dann. Spontaner war sie wohl, gelassener.


Ein große Portion Pommes, bitte!

Aber da ist noch etwas anderes. "Ich weiß, wie bequem es ist", sagt sie. Sie wird geschont, keiner verlange Hundert Prozent von ihr. Die Krankheit ist Schutz und Verderben zugleich.

Dicke Menschen findet sie eklig. Ihr Freund hat einen kleinen Bauch, das macht ihr zu schaffen. Sie will dann auch sein Essverhalten kontrollieren. Er sage dann immer: "Ich bin nicht derjenige der krank ist". Sie lacht. Sie weiß er hat Recht und kann doch nicht anders.

Ihr Ziel sind 59 Kilo. Am 7. Juli wird sie für vier Wochen nach Hause gehen. Sie hat sich für das Intervall-Programm entschieden, wird wiederkommen. Im Schnitt dauere es fünf bis sieben Jahre, bis die Krankheit austherapiert sei.

Es gibt eine Art Ess-Prüfung in der Klinik, sie nennen es Lebensmittel-Expo.Lisa Auers hat ihre am Wochenende. Einen Teller Pommes muss sie essen. "Aber nicht die kleine Portion ."