Druckartikel: Habt den Mut und wehrt Euch!

Habt den Mut und wehrt Euch!


Autor: Manuel Stark

Lichtenfels, Montag, 25. November 2013

Wie viele Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, gab sich auch Anna am Anfang selbst die Schuld für ihre Erlebnisse. Heute sieht sie das anders. Betroffenen rät sie, sich frühzeitig Hilfe zu holen.
Auf dem eigenen Sofa gefesselt wurde Anna eine ganze Nacht lang von ihrem Ex-Freund gefoltert. Noch immer versucht sie, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.  Symboldbild: Manuel Stark


Zitternd saß Anna auf dem Sofa ihrer Mutter. Die 42-Jährige starrte mit leerem Blick, übersät mit offenen Wunden und Blutergüssen, den sichtlich erschütterten Polizeibeamten entgegen. Immerhin hatte sie überlebt. Fast ein Jahr ist das nun her. Heute, am internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, erinnert sich Anna (Name von der Redaktion geändert) an ihren Leidensweg. Sie möchte aufrütteln, anderen Opfern helfen. Die Kraft dazu verdankt sie ihrem starken Willen, aber auch dem Weißen Ring, einer Hilfsorganisation für Opfer. Auch heute ist der Lichtenfelser Alfons Hrubesch als ehrenamtlicher Helfer mit dabei und gibt Halt.

Die größte Gefahr, Opfer der Gewalt eines vertrauten Menschen zu werden, liegt nach Annas Meinung darin, die Augen vor Signalen zu verschließen. Sie und ihr Lebensgefährte, die damals beide im Landkreis Lichtenfels lebten, stritten immer häufiger.

Immer ging es um das selbe Thema: Eifersucht. Anna verstand nicht, wie er auf den Gedanken kommen konnte, sie hätte einen anderen. Mit der Zeit wurden die Streitereien und Vorwürfe heftiger, wie im Wahn wiederholte ihr Freund seine grundlosen Anschuldigungen. Eines Tages reichten ihm die Worte nicht mehr und er schlug zu. Anna redete sich ein, dies sei ein einmaliger Ausrutscher, weil er sich wegen des getrunkenen Alkohols nicht unter Kontrolle hatte. Am nächsten Tag sah sie ihre Hoffnung bestätigt: In nüchternem Zustand kam er zu ihr und bat flehend um Entschuldigung. Erleichtert vergab sie ihm sofort; seine guten Seiten machten diesen einen Fehltritt doch leicht wett, sagte sie sich.

Doch auch die nächsten Monate brachten keine Besserung, immer wieder schrie er sie an und beschuldigte sie der Untreue. Anna war überzeugt davon, dass es nur eine Phase sei, vielleicht weil er sich vernachlässigt fühlte. Also kümmerte sie sich mehr um ihn und blieb zuhause, um ihn zu beschwichtigen. Eines Tages aber ertappte sie ihn dabei, wie er ihre Sachen durchwühlte. Wieder schrie er sie an, duldete keinen Widerspruch. Im Rausch der Aggression demolierte er die Wohnung, zertrümmerte die Einrichtung und warf willkürlich Gegenstände durch den Raum. Anna hatte Angst, sagte aber nichts. Seine Drohung "Wenn du den Mund aufmachst, bring' ich dich um!", schüchterte sie ein.

Wie konnte der Mann, den sie schon so lange kannte und liebte, so etwas tun? Was hatte sie denn falsch gemacht? - Das sind Fragen, die sich laut dem Weißen Ring viele Opfer von Gewalt stellen. Stattdessen sollten sie sich aber von Anfang an wehren, meint Hrubesch. Er sieht eine seiner Aufgaben auch darin, die Leidenden von der Alleinschuld des Täters zu überzeugen. Das zu glauben, fällt vielen Betroffenen sehr schwer. Viel zu oft flüchten diese sich in falsche Hoffnungen, die Übergriffe werden noch heftiger.

Auch Anna wurde deswegen Gefangene dieser Spirale der Gewalt. Selbst als ihr Lebensgefährte sie im Juli 2012 krankenhausreif prügelte, schwieg sie, weil er sie auf Knien um Vergebung bat - und Anna ihm erneut glaubte. Ihren Arbeitskollegen nannte sie einen Autounfall als Grund für ihre Verletzungen.

Im Dezember verprügelte ihr Freund sie erneut. Härter als zuvor, zu den Schlägen kamen Tritte. Die ganze Nacht ließ er nicht von ihr ab, während er sie wieder und wieder der Untreue bezichtigte. "Hoffentlich überlebe ich das", war Annas einziger Gedanke in diesen Stunden. Sich zu wehren kam ihr nicht in den Sinn, viel zu klein fühlte sie sich gegenüber dieser grausamen Kraft und Brutalität. Eine Ausrede für die Arbeit brauchte sie diesmal nicht, sie wurde für längere Zeit krankgeschrieben, blieb bei ihrem Freund und glaubte an bessere Zeiten. Jeden Tag Vorwürfe und Durchsuchungen, Misstrauen und Hausarrest wurden ihr am 28. Dezember zu viel. Anna machte mit ihrem Freund Schluss, der wutentbrannt das Haus verließ. Die Freiheit schien ihr unwirklich, als er sie am nächsten Tag anrief und sie bat, ihn abzuholen. Wenigstens ein paar Tage wolle er in der gemeinsamen Wohnung bleiben, bis er eine neue Bleibe gefunden habe.


Stundenlange Qualen

Anna holte ihn mit dem Auto ab. Bereits als er einstieg, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick wirkte leer und völlig kalt, seine ganze Haltung drückte Ablehnung aus, und er schwieg während der Fahrt. Daheim angekommen fühlte sich Anna unwohl, sie wollte keine weitere Nacht mit ihrem Ex-Freund in derselben Wohnung verbringen und teilte ihm daher mit, dass sie bei ihrer Mutter übernachten werde. Kurz bevor sie das Telefon neben der Couch erreichte, wurde sie von hinten grob an der Schulter gepackt. Ihr Ex-Freund schmiss sie auf das Sofa. Vor Angst fühlte sie sich wie gelähmt, als sie erneut diesen Wahn in seinen Augen sah. Er fesselte sie und schlug auf sie ein: "Du hast einen anderen! Gib es zu! Wer ist es?" Jede Beteuerung von Treue und Unschuld fachte seinen Zorn nur noch mehr an.

Er drosselte Anna, bis sie fast erstickte, prügelte und trat auf sie ein. Eine ganze Nacht lang wurde Anna von ihm gefoltert und befragt, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie sagte ihm, was er hören wollte, sagte, sie habe ihn betrogen und dachte sich Namen für Affären aus, die es gar nicht gab. Endlich ließ ihr Ex-Freund von ihr ab, halb tot und blutüberströmt wurde sie von ihm ins Bad gebracht und gewaschen, danach fuhr er sie zu ihrer Mutter und lieferte sie wie ein Paket ab. Nur kurze Zeit später traf die verständigte Polizei ein. Anna wurde ins Krankenhaus gebracht. Von den Polizisten und Ärzten wurde ihr der Weiße Ring als Organisation vertrauenswürdiger Ansprechpartner empfohlen. Mit dessen Unterstützung unterzog sie sich seitdem Operationen, war Befragungen ausgesetzt und suchte Psychologen sowie Psychiater auf.

"Ohne diese Hilfe hätte ich das niemals geschafft." Noch immer befindet sie sich in Therapie, die Schreckensnacht mag ein Jahr vergangen und ihr Körper geheilt sein, die Wunden ihrer Seele jedoch liegen tiefer. Noch immer wacht sie nachts schweißgebadet und mit rasendem Herzen auf. "In solchen Momenten spüre ich den Schmerz wieder und alles holt mich ein", erzählt sie. Trotzdem hat sie Hoffnung: Sie setzt sich positive Ziele und tut alles dafür, dass es ihr Stück für Stück wieder besser geht. Von Alfons Hrubesch und dem Weißen Ring wird sie dabei solange begleitet, wie sie es möchte. Die Organisation will dabei helfen, Gewalt gegen Frauen zu beseitigen, wie es das Tagesmotto des 25. November fordert.