Führung durch Lichtenfels offenbart Schicksal fränkischer Juden
Autor: Natalie Schalk
Lichtenfels, Freitag, 08. November 2013
Gebäude, wie sie überall in Franken stehen. Geschichten, wie sie überall passierten: vor 75 Jahren, als die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen Juden übergingen. Ihre Schicksale erkundeten an die 70 Menschen bei einer Stadtführung durch Lichtenfels.
Die blaue Kapuze tief im Gesicht schreit Günter Dippold die Geschichten der Lichtenfelser Juden über den Markt. Der Bezirksheimatpfleger brüllt gegen das Prasseln auf den Regenschirmen an, gegen das kalte Knistern des Windes. Vielleicht auch ein wenig gegen das Vergessen. Die Lichtenfelser Juden, Oppenheimers und Brülls, Zenners und Gutmanns, Zinns und Pausons - sie sind Geschichte. 75 Jahre nach dem Novemberpogrom gibt es in Lichtenfels und Altenkunstadt eine ganze Gedenkveranstaltungs reihe. Die Stadtführung bildet den Auftakt. An die 70 Zuhörer stapfen mit Dippold durch den Regen in die Vergangenheit.
Die 14-jährige Marie-Luise schreibt akribisch mit, weil sie fürs Meranier-Gymnasium ein Referat vorbereiten muss. "Die Geschichte des Dritten Reichs ist bedrückend", sagt sie.
Antwortsuche auf Krücken
Jan Leirich muss ohne Schirm auskommen. Der 26-Jährige hat keine Hand frei, er humpelt auf Krücken. "Ich bin zur Reha hier", erzählt er. "Das Thema interessiert mich: Wie und warum kam es so weit?" Bessere Antworten als in Schleswig-Holstein findet er aber in Lichtenfels auch nicht: "Es ist hier nichts anderes als bei uns zu Hause."
Grete Buchka ist in Lichtenfels zu Hause, seit 46 Jahren. Sie will mehr über die Vergangenheit ihrer Stadt wissen. "Die Alten haben früher immer von den jüdischen Mädchen erzählt. Hübsche Mädchen müssen das gewesen sein - aber ins Haus durften sie nicht." Gerhard Schmidt wurde 1936 in Lichtenfels geboren, er weiß selbst Einiges zu berichten. "Ich bin erschüttert. Auch nach 75 Jahren."
Eigene Erinnerungen
Der frühere Stadtrat erzählt, wie er als Knirps vom Fenster aus sah, dass Jugendliche einen jüdischen Jungen mit Steinen bewarfen und wie seine Oma zur Kreisleitung zitiert wurde. Ihre Tochter war erwischt worden, als sie heimlich über den Gartenzaun kletterte, um mit dem jüdischen Nachbarsbub zu spielen. "Eine Episode, wie es sie auch woanders gab." Nichts Ungewöhnliches, so wie die Häuser, die Dippold zeigt, überall in Franken stehen könnten.
"Alfred Oppenheimer" ruft Dippold vor der Hausnummer 14 in der Inneren Bamberger Straße, "passiert, was allen jüdischen Männern ab 16 Jahren am 10. November 1938 widerfährt: Sie werden verhaftet. Einfach so. Schutzhaft hieß das dann." Fast 11 000 Menschen wurden nach der Pogromnacht ins KZ Dachau verschleppt, auch die Lichtenfelser waren im Zug unterwegs. "Und dann kommt die Meldung über Telegraf: Dachau ist voll."
Alfred Oppenheimer wird im Landgerichtsgefängnis Hof eingesperrt. Dippold liest aus seinem durchweichten Manuskript Teile eines Briefes vor, in dem Oppenheimers Mutter um die Freilassung des Sohnes bittet: Sie, die Witwe eines Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, sei krank und brauche Hilfe, die Schwiegertochter liege gerade in einer Erlanger Klinik und die Auswanderung in die USA sei doch schon genehmigt. Als Dippold erzählt, dass der Sohn einige Wochen später freikam, ist das Aufatmen unter einigen Regenschirmen hörbar.
Der Anfang des Mordens
Oppenheimers versuchten, heimlich einige ihrer Wertsachen mitzunehmen. Sie wurden erwischt, wegen "Verstoßes gegen das Devisenwirtschaftsgesetz" eingesperrt. "In der Folge können sie das Land nicht mehr verlasssen und werden Opfer der Shoa, des organisierten Massenmordes."
Die Pogromnacht war der Anfang der offenen Gewalt gegen Juden. Nach knapp 20 Stationen - nur einem Teil der jüdischen Geschichte von Lichtenfels - berichtet der Bezirksheimatpfleger in der rekonstruierten Synagoge von der Nacht, in der überall in Deutschland jüdische Gotteshäuser angezündet wurden, von der Bosheit des Lichtenfelser Mobs. Mit diesem bitteren Kapitel endet die Geschichte aber nicht.
Eine 501 als Erbe
Die Tuchhändler, Lehrer, Stadträte gehören zu Lichtenfels wie das jüdische Erbe überhaupt Teil fränkischer Kultur ist. "Wir können stolz darauf sein", sagt der Bezirksheimatpfleger. So wie auf den Buttenheimer Levi Strauss, der in Amerika die Jeans erfand. Dippold trägt unter der Regenjacke eine 501.