Der 93-jährige Günter Wieske erlebte Schloss Oberau 1940/41 als Jugendlicher. Seine Hamburger Schulklasse war für neun Monate nach Franken verschickt worden. Viele Erlebnisse hielt er mit seiner "Box" fest. Ein Album zeugt davon.
"Ich staune. Hier ist ja alles anders", sagt Günter Wieske, als er nach fast 80 Jahren wieder auf dem Areal des Gutshofes Oberau steht. Als er jedoch das Schlösschen sieht, kommt die Erinnerung wieder: "Das ist vertraut!"
Der 93-jährige Theologe war von November 1940 bis August 1941 als Jugendlicher hier - auf "Kinderlandverschickung", wie das damals genannt wurde. Zwei Klassen der Oberrealschule für Jungen aus Hamburg-Eimsbüttel wurden zusammen mit ihren Lehrern zu Beginn des Krieges nach Oberau ausgelagert. "Es gab Zeiten, da hatten wir wirklich Heimweh", erinnert er sich, denn "das war eine lange Zeit für Kinder".
Er korrespondierte viel mit den Eltern, die in Hamburg geblieben waren - und er machte Fotos. "Mein Vater hat viel fotografiert, er hatte ein waches Auge." Das prägte den Jungen, der eine eigene Kamera, eine Box, besaß und selbst leidenschaftlich Aufnahmen machte ("'ne Kamera zu haben war ja was").
Fotoalbum als Zeitzeugnis
So entstand ein kleines Fotoalbum mit Bildern vom Aufenthalt in Oberau. Darin hielt er die Freizeiterlebnisse fest: Ausflüge nach Vierzehnheiligen und Gößweinstein, Bamberg, Nürnberg, Coburg und Kulmbach, Wanderungen nach Banz und auf den Staffelberg. Es gibt Bilder vom Schwimmen und Reiten, Holzfällen und Schlittenfahren und vom Antreten der Hitlerjugend. Nicht die Lehrer, sondern die HJ-Führer organisierten die Ausflüge. Politische Schulung habe jedoch kaum stattgefunden: "Die HJ-Führer machten ganz wenig mit uns."
Schlafsäle mit Etagenbetten
Seine Erinnerungen sind selektiv. An detaillierte Unterrichtsinhalte erinnert sich der 93-Jährige kaum; wohl aber an den Ort des Unterrichts. Das Klassenzimmer befand sich im Erdgeschoß von Schloss Oberau, die Schlafsäle waren im ersten Stock. Jeweils sechs Jungen pro Raum schliefen in Etagenbetten. Durch das Fenster fiel der Blick auf den Park; durch eine Schneise war der Staffelberg zu sehen.
Mit Einheimischen hatten die Hamburger wenig Kontakt, obwohl sie öfters in kleinen Gruppen nach Staffelstein stromerten. Folgen hatte das nur für einen der Jungen, der "eine intensive Beziehung zu einem Mädchen aufbaute"; als sie schwanger wurde, musste er zurück nach Hamburg. Lebhaft erinnert sich Günter Wieske an einen Ausflug nach Banz. Dort habe ihnen der Kastellan den gruseligen Folterkeller gezeigt, wo die bei der Tortur verwendeten Geräte an den Wänden hingen. Beim Baden im Main genoss er die Strömung, und es gab Wettkämpfe im Bräunen. Der Ausflug nach Coburg sei ihm deshalb im Gedächtnis, weil er dort die erste Operette seines Lebens sah. Im Elternhaus - sein Vater war Pastor - sei dieses Genre verpönt gewesen: "Die Operette war unserer Kirche zu weltlich."
Zwei Jungen stürzten ab
Ein Erlebnis, das er nicht vergisst, ist der Sturz eines Jungen, der einen Ball aus der Regenrinne des Schlosses holen wollte. Er rutsche dabei ab und verletzte sich schwer. Ein anderer Junge war auf eine riesige Tanne gestiegen, um nachzusehen, welche Schätze sich im Elsternnest befinden. Er verlor den Halt, purzelte Ast für Ast nach unten, verletzte sich jedoch nur leicht.