Wahrheit in der Medizin: Wie sag ich's meinem Patienten?
Autor: Dagmar Besand
Kulmbach, Montag, 14. Oktober 2019
Bei schwerwiegenden Diagnosen die richtigen Worte zu finden, ist eine schwierige Aufgabe. Medizinethiker Thomas Bohrer hat dazu eine klare Haltung.
Frank K. (Name geändert) hat ständig Kopfschmerzen, geht zum Arzt. Es wird eine Computertomografie des Kopfes veranlasst, zur Besprechung ein Termin beim Neurologen in einem Krankenhaus vereinbart. Der Pförtner empfängt den 35-Jährigen mit den Worten: "Ah, Sie sind der Patient mit dem Hirntumor." Schockstarre. Der Familienvater hatte noch keine Ahnung von seiner Diagnose, seine Welt bricht zusammen.
Jedes Schicksal ist anders
"Sowas ist eine Katastrophe", sagt Thomas Bohrer, seit zwei Jahren Leitender Arzt der Klinik für Thoraxchirurgie am Klinikum Kulmbach. Ein Ext rembeispiel, aber so etwas kommt vor. Der 53-Jährige hat selbst schon oft harte Wahrheiten vermitteln müssen. Die Diagnose einer schweren Krankheit mit geringen oder keinen Chancen auf Heilung stellt das Leben des Betroffenen und seiner Angehörigen auf den Kopf. In dieser Situation die richtigen Worte zu finden, ehrlich zu sein, ohne den Patienten in die Verzweiflung zu stoßen, ist eine schwierige Aufgabe und eine große Verantwortung.
"Es gibt dafür keinen Leitfaden, denn jeder Fall, jedes Schicksal ist anders. Das Wichtigste ist, den richtigen Zeitpunkt zu finden", sagt Thomas Bohrer. Dazu gehört, sich Zeit zu nehmen, in Ruhe den Befund zu besprechen, vorher die Lebenssituation des Patienten möglichst genau zu kennen. Warum? "Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Information selbst und der Bedeutung dieser Information für den Einzelnen." Ein Beispiel macht das deutlich: Ein 85-Jähriger und ein 28-Jähriger haben den gleichen Lungentumor, aber der eine hat sein Leben gelebt, der andere hätte es eigentlich noch vor sich...
Da ist seitens des Arztes viel Gespür gefordert, sagt Bohrer. Nebenbei auf dem Krankenhausflur oder bei der Visite schlechte Nachrichten zu verkünden, das geht gar nicht.
Für den Kulmbacher Chefarzt, der als Professor an der Universität Würzburg Medizinethik und Medizinphilosophie lehrt und der vor zehn Jahren das Würzburger Philosophicum ins Leben gerufen hat, ist Wahrheit eng mit Wahrhaftigkeit verknüpft. So führt das Gespräch zuerst zur Frage: Was ist eigentlich Wahrheit?
Empathie und Vertrauen
In der Medizin wird die Wahrheit in der Regel mit der Expertenmeinung gleichgesetzt. "Unsere Tätigkeit ist dem Wissen verpflichtet", sagt der 53-Jährige. Doch die reine Sachebene ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Emotionen spielen eine wichtige Rolle, Empathie, Vertrauen.
Die Wahrhaftigkeit des Arztes kommt in seinem Verhältnis zur Wahrheit zum Ausdruck, sagt Bohrer: "Was denke ich, wenn ich jemandem die Wahrheit erkläre?" Es geht um die Übereinstimmung der Aussagen des Arztes mit seiner Überzeugung. Unwahrhaftig wäre demnach, dem Patienten am Lebensende falsche Hoffnungen zu machen. Genauso falsch wäre es aber, ihm jede Zukunftsperspektive zu rauben. Gemeinsam müsse man versuchen, die bestmögliche Lebensqualität für die noch verbleibende Zeit zu erreichen.