Druckartikel: Vom schweren Start in ein neues Leben

Vom schweren Start in ein neues Leben


Autor: Dagmar Besand

Kulmbach, Freitag, 14. Januar 2022

Um ihr Leben zu retten, haben sie alles zurückgelassen. Was die afghanischen Ortskräfte erlebt haben und warum der Weg zum Neuanfang mit vielen Hindernissen gepflastert ist.
Soldaten geleiten Menschen für die Evakuierung an Bord eines Militärtransportflugzeugs. Auch die Ortskräft, die jetzt in Kulmbach leben, wurde von einer Militärmaschine nach Europa ausgeflogen. Foto: Senior Airman Brennen Lege/U.S. Air Force/AP/dpa


Die Einrichtung ist spärlich: ein Bett, eine Matratze, ein Teppich, zwei Stühle. Das Zimmer, das die fünfköpfige Familie W. bewohnt, ist nur eine Notlösung, eine Zwischenstation auf dem Weg in ein neues Leben. Sie ist eine von vier afghanischen Familien, die sich derzeit die Gemeinschaftsunterkunft in der Kulmbacher Schützenstraße teilen. Es sind ehemalige Ortskräfte mit ihren Frauen und Kindern. Noch vor einigen Monaten haben sie in Afghanistan für die Bundeswehr sowie für deutsche Behörden und Organisationen gearbeitet. Das machte sie zur Zielscheibe der Taliban. Die Familien haben ihr Land verlassen, um ihr Leben zu retten. All ihren persönlichen Besitz mussten sie zurücklassen.

Sakhi W. war jahrelang Übersetzer und Projektmanager, unter anderem für die Bundeswehr und die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Der Agrarwissenschaftler war verantwortlich für landwirtschaftliche Programme im Norden Afghanistans. "Es war eine wichtige und interessante Aufgabe für die Entwicklung in unserem Land und eine bessere Zukunft der Menschen", erzählt der 45-Jährige. "Und wir hatten Erfolg."

Die Familie lebte in Masar-i Scharif in einem schönen Haus. Es ging ihnen gut. Als es Ende Juni im Norden des Landes vermehrt zu Kämpfen mit den Taliban kam, zogen die westlichen Organisationen ihre Mitarbeiter aus der Region ab. Die Familie ging zunächst nach Kabul. Zwei Monate später drängten sich die Fünf dort mit Tausenden am Flughafen, in der Hoffnung, nach Deutschland evakuiert zu werden. "Es war nirgends mehr sicher. Die Taliban durchkämmten das Land auf der Suche nach Ortskräften und brachten alle um, die sie fanden."

Tage und Nächte wartete die Familie am Flughafen. Dann brachte sie eine Militärmaschine zunächst nach Amsterdam. Von dort kam die Familie in ein Durchgangslager in Niedersachsen, im Oktober dann nach Kulmbach. Seither leben die Eltern mit ihren drei Kindern in der Schützenstraße. Sie würden das Quartier gerne so schnell wie möglich verlassen und in eine richtige Wohnung umziehen. Die Verhältnisse in der Schützenstraße sind beengt, Privatsphäre gibt es nicht. Mit acht Erwachsenen und zehn Kindern ist immer Trubel, man teilt sich ein Bad und eine Küche.

"Wir sind Deutschland sehr dankbar für alle Hilfe. Auch der Caritas, dem Jobcenter, allen, die uns geholfen haben, bei den ersten Schritten hier. Wir sind in Sicherheit. Das war zunächst das Wichtigste", sagt Sakhi W. "Aber jetzt muss es weitergehen. Und eine eigene Wohnung ist dafür ganz wichtig."

Das sieht auch Magdalena Pröbstl so, die einige der Schützenstraßen-Bewohner als Lehrerin im Unterricht des allgemeinen Integrationskurses kennengelernt hat. Sie hat die Familien ehrenamtlich unter ihre Fittiche genommen und versucht, ihnen bei der Suche nach einer Bleibe zu helfen. "Der Immobilienmarkt ist ziemlich leer gefegt. Das macht es extrem schwer, eine passende und bezahlbare Wohnung zu finden." Doch noch schlimmer findet die 43-Jährige, dass viele Vermieter ihre Wohnung grundsätzlich nicht an Afghanen vergeben möchten. "Diese Ablehnung kommt, ohne die Leute zu kennen. Das macht mich traurig und sehr wütend."

Magdalena Pröbstl gibt die Hoffnung jedoch nicht auf und hofft, dass die Suche bald Erfolg hat. Wer eine Wohnung zu vermieten hat, kann sich mit Magdalena Pröbstl in Verbindung setzen (Telefon: 0176/24103214, Mail magdalena.proebstl@gruene-kulmbach.de).

Neben der Familie W. suchen noch ein Ehepaar mit fünf Kindern, eine dreiköpfige Familie und ein Ehepaar mit einem Kind, das im Sommer ein zweites erwartet, dringend eine eigene Wohnung. Qudsia H. ist die junge Mutter, die sich sehnlichst ein gutes Zuhause wünscht. "Die letzten Monate waren traumatisch", sagt die 25-Jährige. "Ich möchte so gerne endlich zur Ruhe kommen."

Auch ein anderer Familienvater, der seinen Namen aus Angst, selbst im fernen Deutschland von den Taliban gefunden zu werden, nicht in der Zeitung lesen möchte, hofft, dass er schnell in ein normales Leben findet: Er wolle baldmöglichst arbeiten und der deutschen Gesellschaft für ihre Gastfreundschaft etwas zurückgeben. Dieses Ziel eint alle geflüchteten Afghanen in der Schützenstraße: Die Sprache lernen, arbeiten, Freunde finden, sich integrieren - das sind ihre großen Träume für eine glückliche Zukunft in dem Land, das ihre neue Heimat werden soll.

Migrationsberaterin begleitet erste Schritte

Welche Hilfen gibt es für Geflüchtete aus Krisengebieten? Da steht an erster Stelle die Migrationsberatung des Caritas-Kreisverbands. "Ich würde meine Arbeit als Wegweiser beschreiben. Wir begleiten die ersten Schritte nach der Zuweisung in die kommunalen Unterkünfte. Wir beraten zu sozialen Unterstützungsleistungen, Spracherwerb, Arbeitsmarktintegration, Unterbringung der Kinder in Schulen und Kindergärten, Krankenversicherung und vermitteln, welche Werte und Vorstellungen bei uns gelten", erzählt Migrationsberaterin Nadine Hacker. "Was nicht möglich ist, ist eine permanente persönliche Begleitung der Klienten. Was wir aber bieten können und wollen, ist Hilfe zur Selbsthilfe."

Die größten Schwierigkeiten? Nadine Hacker: "Der leere Wohnungsmarkt, die Ärzte, die keine neuen Patienten aufnehmen können, die fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten, aber auch bürokratische Hürden. Oft wird eine Flut an Dokumenten verlangt, die man in Deutschland benötigt, die bei unseren Ratsuchenden aber oft nicht vorhanden sind."

Alltagsunterstützung bieten die Integrationsbegleiter des Landkreises. Das sind derzeit 15 speziell geschulte Ehrenamtliche, die Migranten helfen, sich besser zurechtzufinden und die von der hauptamtlichen Integrationslotsin Souzan Nicholson koordiniert werden.

Hintergrund

Rettungsaktion Nach der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 wurde eine militärische Evakuierungsmaßnahme durchgeführt, um Ortskräfte der Bundesressorts mit ihren Familien auszufliegen.

Verteilung Die Verteilung der afghanischen Ortskräfte erfolgt durch den Bund und wird durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gesteuert. Die Regierung von Oberfranken hat bisher rund 150 afghanische Ortskräfte zugewiesen bekommen, von denen vier im Übergangswohnheim in Kulmbach leben. "Wir gehen davon aus, dass auch in den nächsten Wochen afghanische Ortskräfte einreisen werden, um deren Aufnahme und Unterbringung wir uns kümmern werden", so Sabine Kerner, Pressesprecherin der Regierung von Oberfranken.