Stadtsteinach: Einblick in das Leben um die Jahrhundertwende
Autor: Siegfried Sesselmann
Stadtsteinach, Montag, 18. Mai 2015
Auf einer Karte aus dem Jahr 1908 ist nicht nur das "Steinach-Thal" zu sehen. Sie liefert auch Einblicke in das Leben und Sterben der Menschen in Stadtsteinach um die Jahrhundertwende.
Stadtsteinach — In der Freizeit nutzt man oft das Internet, um Günstiges oder Seltenes zu betrachten, zu vergleichen und es ab und zu auch zu kaufen. So fand ich bei einem Online-Händler eine alte Ansichtskarte mit einem Stempel aus dem Jahre 1908. Darauf zu sehen keine Ansichten von Stadtsteinach - stattdessen ein "Gruß vom Steinach-Thal" mit vier Ansichten.
So sind abgebildet der Untere Eisenhammer (heute Hochofen), die Papiermühle (heute Papierfabrik), die Steinach-Klamm und der Waffenhammer. Doch die Karte müsste älter sein, denn man erkennt die Papiermühle vor dem Brand am 18. April 1902.
Als die Karte geliefert wurde, war es interessant, auch die Rückseite zu lesen. Adressiert war die Karte an Fräulein Gunda Simon, Lehrerin in Lauterecken in der Rheinpfalz. Der Text:
"Liebe Schwester! Ich teile dir mit, daß unsere liebe unvergeßliche Schwester heute (Montag) früh 2 Uhr nach Gottes unerforschlichen Ratschluße gestorben ist. Näheres kann ich dir leider nicht mitteilen, weil wir selbst noch nichts Näheres wissen. Sie starb an Typhus. Vater und ___ haben sie nicht mehr lebend angetroffen. Wann die Beerdigung ist und ob sie überhaupt nach hier überführt werden darf, ist ungewiß. Es ist doch zu früh. Deine Anna"
Doch wer war diese Anna Simon, die ihrer Schwester Gundas geschrieben hatte? In die Hauptstraße 4 zog um 1865 Friedrich Simon (1839-1917) aus Vogtendorf bei Kronach ein.
Er heiratete eine Anna Lotz aus der Deinhardsmühle und war von Beruf Händler, speziell Mehlhändler und erhielt deswegen den Hausnamen "Melmer".
In zweiter Ehe heiratete er 1878 als Witwer eine Mar ga re the Hübner aus der Knollenstraße. Generationen kauften in dem Geschäft einst auch Schulhefte, Schiefertafeln und Stifte. Friedrich Simon erwarb sich beim Bau der Kirche, die 1903 abbrannte, große Verdienste. Margarethe Hübner gebar fünf Mädchen - und aus diesem Haus wurde die Karte geschickt.
Die dritte Tochter war tatsächlich eine Kunigunda (Gunda 1883-1971), die später Hauptlehrerin in Lichtenfels war. Und die vierte Tochter war Anna Margareta (1891-1980), die später den Oberinspektor Karl Christoph Hebentanz heiratete.
Die zweite Tochter namens Wilhelmine ehelichte den Wirt und Besitzer der Lorberbräu, Heinrich Lorber, in der Kronacher Straße 17. Die älteste Schwester Margareta zog in die Kronacher Straße 9 zu ihrem Mann, den Bäckermeister Andreas Kremer.
Die Tochter von Margareta und Andreas Kremer namens Kunigunda (geboren 1904) war wiederum mit dem Justizbeamten Christoph Karl Kießling verheiratet und kehrte 1937, nach dem Tod ihrer Großmutter Margareta Simon, in das Haus ihrer Großeltern in die Hauptstraße 4 zurück. Sie führte das Geschäft noch 37 Jahre weiter, bis es 1974 schloss.
Nur noch schöne Bilder erinnern an diese Zeit und an diese Idylle, wo man in Stadtsteinach alles kaufen konnte, was man zum täglichen Leben brauchte.
So kam eine Ansichtskarte nach über 100 Jahren wieder zurück zu dem Ort, den sie mit Bildern auf der Vorderseite darstellt und mit einem Text, der in die Hauptstraße 4 in Stadtsteinach führte. Wo die Karte die 100 Jahre verbrachte und wie sie nach Berlin kam, wird ein Rätsel bleiben.
Auf der Vorderseite der Karte steht noch klein in eine Ecke geschrieben: "Mina (gemeint ist die Schwester Wilhelmine) hat noch dazu heute ein kleines Mädchen bekommen." So nah lagen Tod und Leben in der Familie Simon im Jahre 1908.