Druckartikel: Sexueller Übergriff auf dem Parkplatz: Gericht sucht stundenlang nach der Wahrheit

Sexueller Übergriff auf dem Parkplatz: Gericht sucht stundenlang nach der Wahrheit


Autor: Katrin Geyer

Kulmbach, Mittwoch, 14. November 2018

Gab es den sexuellen Übergriff auf einem Parkplatz - oder lügt das Opfer? Die Wahrheitssuche war für das Gericht in Kulmbach zeitraubend.
Harmlose Rangelei - oder doch ein sexuell motivierter Übergriff? Mit dieser Frage hatte sich das Kulmbacher Schöffengericht zu beschäftigen. Symbolfoto: Christopfer Schulz


Der Fall ist, das muss man leider sagen, nicht ungewöhnlich: Es geht um sexuelle Nötigung, begangen an einem 16-Jährigen. Es geht um einen Beschuldigten, der die Tat leugnet, und um die Frage, wer wann was beobachtet haben könnte. Die Beteiligten stammen ausnahmslos aus dem Raum Bamberg, aber weil der Tatort ein Parkplatz in Himmelkron war, muss sich mit der Sache das Kulmbacher Schöffengericht befassen.

Die Verhandlung wird dann freilich ungewöhnlich: Annähernd sieben Stunden lang tagt das Gericht, und früh schon wird die Strategie des Verteidigers klar: Er will die Glaubwürdigkeit des Opfers, das auch als Nebenkläger auftritt, demontieren.

Aber von Anfang an: Im März 2017 übernimmt der Patientenfahrdienst eines Bamberger Wohlfahrtsverbandes den Transport eines Patienten von der Uniklinik Erlangen ins sächsische Radebeul. Im VW-Bus sitzen zwei hauptamtliche Mitarbeiter, die sich als Fahrer abwechseln, einer davon, damals 28 Jahre alt, der spätere Angeklagte. Außerdem der Patient und ein seinerzeit 16 Jahre alter Praktikant. Auf der Fahrt sei geblödelt worden, berichten die Fahrer und der Jugendliche: "Wie wenn Bekannte miteinander wegfahren." Der spätere Angeklagte hat den Kollegen gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, dass er schwul ist. Auch darüber sei gelegentlich gewitzelt worden.

Die Stimmung kippt bei einer kurzen Pause auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Himmelkron. Während der ältere der beiden Fahrer zur Toilette geht, beugt sich - so steht es in der Anklageschrift - der 28-Jährige von der Rückbank des Autos aus nach vorne, nimmt den 16-Jährigen in den Schwitzkasten und greift ihm von hinten in die Hose.

So erzählt es der Jugendliche vor Gericht. So erzählt er es später zwei Betreuerinnen in der Jugendhilfe-Einrichtung, in der er damals lebt. Und so erzählt er es auch seinem Vorgesetzten und der Polizei. Er habe Angst gehabt sagt er, habe tagelang nicht schlafen können.

Der Angeklagte schildert die Geschehnisse anders. Man habe, sobald man den Patienten in Radebeul übergeben habe, im Auto geblödelt, sich gegenseitig angefrotzelt, sich dabei auch mal neckend die Wange getätschelt oder einander angerempelt. "Alles nur spaßeshalber", sagt der mittlerweile 29-Jährige. Gewaltanwendung? Ein sexuell motivierter Übergriff? Da war nichts, beteuert er. Und überhaupt: Er sei oft mit dem Praktikanten unterwegs gewesen, habe ihn nach Feierabend auch heimgefahren. "Wenn ich solche Absichten gehabt hätte, hätte es genug Gelegenheiten gegeben - nicht gerade auf einem beleuchteten Parkplatz."

Als der ältere Kollege von der Toilette zurückkommt, sieht er, dass im VW-Bus gerangelt wird, dass der Ältere den Jüngeren im Schwitzkasten hat. Wo seine Hand war? Der Zeuge meint, im Schritt des Praktikanten, sagt aber auch, dass ihm nach der langen Zeit nicht mehr jedes Detail in Erinnerung sei. Auf der Heimfahrt sei der Praktikant dann auffallend still gewesen. "Auf jeden Fall war es eine seltsame Situation." Das habe ihn letztlich dazu veranlasst, das alles seinem Vorgesetzten zu melden.

Die Sache geht ihren Gang. Die Polizei vernimmt die Beteiligten, sichert an der Kleidung des Praktikanten DNA-Spuren, die freilich vorläufig nicht ausgewertet werden. Der Beschuldigte wird von seinem Arbeitgeber zunächst beurlaubt, später wird das Arbeitsverhältnis "in gegenseitigem Einverständnis"aufgelöst.

Auch der Praktikant ist seinen Job, der ihm eigentlich viel Freude gemacht hat, mit sofortiger Wirkung los. "Wir haben ihn zu seinem eigenen Schutz aus der Situation rausgenommen, sagt der stellvertretende Geschäftsführer des Arbeitgebers vor Gericht.

Das Gericht muss nun entscheiden, wem es Glauben schenkt: Dem Angeklagten? Oder dem Opfer?

Für den Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Jochen Kaller aus Bamberg, ist die Sache klar: Das war nichts, was seinen Mandanten belasten könnte. Den Zeugen hält er für unglaubwürdig, für einen Lügner. Das versucht er mit Vehemenz zu beweisen.

Die Biographie des Jugendlichen spielt Kaller bei seiner Strategie in die Hände: Aufgewachsen in desolaten Familienverhältnissen, lebt der junge Mann zeitweise in Pflegefamilien, zeitweise in einer Jugendhilfeeinrichtung. Früh wird bei ihm eine dissoziale Persönlichkeit diagnostiziert. Er hat Schwierigkeiten, sich an Normen und Regeln zu halten, reagiert oft aggressiv, nimmt es bisweilen mit der Wahrheit nicht so genau, ist bereits mehrfach straffällig geworden. Zur Gerichtsverhandlung in Kulmbach wird er aus einem Jugendgefängnis vorgeführt, mit Fußfesseln, begleitet von zwei Polizisten.

Immer wieder versucht Kaller, in der Vergangenheit des jungen Mannes Belege dafür zu finden, dass seine Aussage womöglich nicht der Wahrheit entspreche. Er veranlasst, dass die Szene, wie sie sich in Himmelkron zugetragen haben soll, im Original-Auto nachgestellt wird, das die Zeugen aus Bamberg mitgebracht haben. Er besteht darauf, einen Mitarbeiter des Jugendamtes zu hören. Der wird erst während der Verhandlung verständigt, setzt sich ins Auto, um nach Kulmbach zu fahren. Eine halbe Stunde später sagt man ihm, er könne wieder umkehren: Es hat sich nicht so ganz klären lassen, ob er überhaupt etwas sagen oder sich womöglich auf seine Schweigepflicht berufen kann.

Zwei wissenschaftliche Gutachten werden verlesen. Sowohl Gabriele Drexler-Meyer aus Nürnberg, eine Expertin für forensische Psychologie, als auch Helmut Niederhofer, ehemals Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Bezirkskrankenhaus Bayreuth, referieren ausführlich. Übereinstimmend kommen sie zu dem Schluss, dass sie keine Zweifel haben an der "Aussagetüchtigkeit" des Opfers.

Staatsanwalt Julius Klug glaubt dem 17-Jährigen. Er hält den Übergriff für erwiesen. Das Gesetzt sieht für sexuelle Nötigung eine Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr vor. Klug beantragt ein Jahr und vier Monate. Weil der Angeklagte bisher nicht straffällig in Erscheinung getreten ist, hält der Staatsanwalt eine Bewährungsstrafe für möglich - und 100 Stunden gemeinnützige Arbeit für sinnvoll.

Kritische Worte findet Rechtsanwalt Thomas Gärtner aus Bamberg als Vertreter der Nebenklage. "Wer ist hier eigentlich Opfer - und wer der Täter?" fragt er. "Über Stunden hinweg ging es nur um meinen Mandanten. Das hat bei mir einen unguten Eindruck hinterlassen." Auch Gärtner fordert eine Freiheitsstrafe, zusätzlich die Zahlung von 1500 Euro an das Opfer als Entschädigung.

Die Verhandlung ist gewissermaßen schon auf der Zielgeraden, als der Verteidiger noch einmal versucht, das Ruder zugunsten seines Mandanten herumzureißen: Sollte das Gericht seiner Forderung nach einem Freispruch nicht nachkommen, so Kaller, beantrage er hilfsweise die Auswertung der DNA-Spuren - und die Fortsetzung der Verhandlung dann, wenn die Ergebnisse vorliegen.

Diesen Antrag lehnt das Gericht ab: "Wegen Bedeutungslosigkeit", wie die Vorsitzende Richterin Nicole Allstadt sagt. Das Urteil: Ein Jahr und zwei Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt für drei Jahre zu Bewährung. Zusätzlich 180 Stunden gemeinnützige Arbeit, die der 29-Jährige, der seit dem Ende seiner Tätigkeit bei dem Bamberger Wohlfartsverband arbeitslos ist, innerhalb von drei Monaten ableisten muss. Ausführlich erläutert die Richterin, warum sie und die beiden Schöffen den Aussagen des jungen Zeugen Glauben geschenkt haben. Dafür gebe es etliche Anhaltspunkte. Das Gericht sei durchaus in der Lage gewesen, die Glaubwürdigkeit des 17-Jährigen einzuschätzen. "Wir hätten all die Gutachten dafür nicht gebraucht."