Sein Kampf hat sich gelohnt
Autor: Dagmar Besand
Menchau, Montag, 14. März 2022
Nach acht Monaten hat Jürgen Kellers Ringen um seinen Spezialrollstuhl ein gutes Ende genommen. Trotzdem muss er Abstriche in Kauf nehmen. Menschen in seiner Situation könnte man es leichter machen.
Darauf haben Jürgen Keller und alle, die ihn pflegen und versorgen, lange warten müssen: Der 36-Jährige hat endlich wieder einen funktionierenden Rollstuhl, der ihm ein Minimum an Mobilität zurückgibt. Acht lange Monate hat es gedauert - eine Zeit in totaler Abhängigkeit, die ihn sehr belastet hat.
Jürgen Keller leidet an einer Emery-Dreifuss-Muskeldystrophie - einer Erbkrankheit, die zu einem unaufhaltsamen Muskelschwund führt und nicht heilbar ist. Seit Jahren ist er schwerstpflegebedürftig, braucht rund um die Uhr Atem-Unterstützung und Hilfe bei allem. Das letzte bisschen Freiheit gibt ihm die Restbeweglichkeit des Daumens, mit dem er via Mini-Joystick einen Elektro-Rollstuhl selbst steuern kann. Der Antrieb seines elf Jahre genutzten Spezial-Rollis ging jedoch im Juli vergangenen Jahres ohne sein Verschulden irreparabel kaputt. Ersatzteile gibt es nicht mehr. Die Konsequenz: Jürgen Keller konnte das Haus nicht mehr verlassen, denn der schwere Rollstuhl konnte ohne den Antrieb nur mit großer Kraftanstrengung von den Pflegekräften bewegt werden. "Da geht dann nur das Nötigste. Mehr kann ich niemandem zumuten."
Sieben Monate kämpfte Jürgen Keller bei der AOK um Bewilligung eines gleichwertigen Ersatzes. Doch die Krankenkasse setzte immer wieder den Rotstift an, sparte an Ausstattungsdetails, die für den Patienten wichtig sind. Es gab Gutachten, Widersprüche, neue Angebote, wieder Kürzungen. Zwei Mal berichtete auch die Bayerische Rundschau über den Fall. Die AOK versprach auf Nachfrage eine schnelle Lösung, doch das Verfahren zog sich hin. Im Januar endlich wurde eine Kompromisslösung gefunden, mit der der 36-Jährige leben kann. Vor einigen Tagen wurde nun der individuell angepasste Rollstuhl geliefert. Keller ist erleichtert: "Das war jetzt wirklich eine lange, schwere Zeit."
Endlich wieder raus aus der Wohnung
Am wichtigsten ist ihm die Steuerungsmöglichkeit. "Ich hatte schon etwas Sorge, ob ich nach der langen Zeit noch selbst fahren kann, aber es klappt noch gut", sagt Jürgen Keller. Er kann nun wieder selbstständig die Neigung der Rückenlehne verstellen, mithilfe eines Monitors in der barrierefreien Wohnung fahren, in sein Zimmer, ins Bad. Dort braucht er Hilfe, aber den Weg schafft er nun alleine. Auch nach draußen in den Garten kann er wieder, sobald die noch fehlende Halterung für sein Beatmungsgerät montiert ist.
Wichtig, aber gestrichen: die Liegfunktion
Wie wichtig das alles für ihn ist, können sich Außenstehende kaum vorstellen: "Es ist ein kleines Stückchen Selbstständigkeit, das einzige, das mir bleibt." Jürgen Keller ist froh, dass das Rollstuhl-Drama nun ein Ende hat. Ganz zufrieden kann er mit der Lösung allerdings nicht sein. Sehr wichtig wäre für ihn die Liegefunktion gewesen. Diese hätte es ihm ermöglicht, sich im Rollstuhl selbstständig hinzulegen, um sich auszuruhen und den Rücken zu entlasten. Viele Stunden am Stück aufrecht zu sitzen, strengt ihn an. Die Entscheider bei der AOK waren der Ansicht, dass die Pflegekräfte ihn zum Ausruhen ins Bett legen können. "Das ist aber für sie anstrengend und für mich auch", sagt der 36-Jährige. Die von ihm, seinen Therapeuten und Hausarzt Volker Seitter vorgebrachten Argumente halfen nicht. Es blieb beim Nein.
Dem Rotstift zum Opfer fielen auch andere Ausstattungsmerkmale des Vorgängermodells. Die Hubfunktion, die es ermöglicht, die Sitzhöhe an unterschiedliche Tischhöhen anzupassen zum Beispiel. Zu Hause ist das nicht unbedingt nötig, aber wie jeder Mensch möchte auch Jürgen Keller ab und zu das Haus verlassen, Freunde besuchen, bei ihnen am Tisch sitzen. Auch bei einem solchen Ausflug fehlt ganz besonders die Liegefunktion. "Ich kann mich ja schlecht bei anderen ins Bett legen lassen."
Trotzdem ist Jürgen Keller dankbar, dass er endlich wieder einen funktionierenden E-Rolli hat. Im Rückblick auf seine eigene nervenzehrende Odyssee wünscht er für die Zukunft allen, die ein ähnliches Schicksal meistern müssen, dass Anträge nicht nur schneller bearbeitet werden, sondern dass sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und gemeinsam die beste Lösung für den Patienten suchen - und ihn dann schnell mit dem Nötigen versorgen. "So würde das in einer idealen Welt laufen, aber die haben wir leider nicht."