Rückblicke taugen nicht zum Erkenntnisgewinn
Autor: Jochen Nützel
Kulmbach, Sonntag, 02. Januar 2022
Zweiter Januar - gefühlt schon wieder Zeit für einen Jahresrückblick, oder? Obwohl: Das mit dem Zurückschauen hat sich in vielen Fällen als wenig hilfreich erwiesen.
Ich habe mir dennoch den Spaß gemacht, in der ersten Ausgabe der Bayerischen Rundschau vom 2. Januar 2020 zu blättern. Jetzt, wo wir die Welt nicht mehr einteilen nach "vor den Anschlägen" und "nach den Anschlägen" in New York an 9/11, war der Jahreswechsel 2019/2020 der letzte "vor Corona". Ich sehe meine Ex-Kanzlerin bei ihrer Neujahrsansprache durch die Raute direkt
in die Kamera frohlocken, 2020 werde "ein gutes Jahr". Ach ja, der Hosenanzug und seine Glaskugel. Ich sehe eine Ankündigung für Livemusik in der Kommunbräu - ohne Vorgaben zu 2G plus. Ich sehe Menschen bei einer Vernissage - ohne Abstand und Maske. Dunnerkeil! Und ich suche vergeblich nach der täglichen Corona-Seite mit den aktuellen Ansteckungen, Inzidenzen und Impfquoten.
Tempus fugit: Die Zeit flieht, spruchweisheitet der Lateiner. Heute lesen wir täglich, um im Bild zu bleiben, von den Metamorphosen des Covid. Was vor zwei Jahren wie Science Fiction klang, ist eine Realität, die wir schulterzuckend mit einem "Na ja, ist halt so" zur Kenntnis nehmen.
Die Mutigen unter den Kaffeesatzlesern wagen nun das Ende der Pandemie vorauszusagen. Politiker fordern: Sobald die Seuche vorbei ist, müssen wir zurück zu dem Punkt, an dem wir "vor der Krise" waren. Komisch, das habe ich genau so schon mal gehört: zum Jahreswechsel 2009, vier Monate nach der Pleite der Lehmann-Bank und der dadurch ausgelösten Finanzkrise. Merken Sie was? Man soll also zurückspringen just an den Moment, an dem die Malaise ihren Anfang nahm. Man will die Uhr zurückdrehen, dann aber genauso weitermachen - bloß mit einem anderen
Ergebnis. Wie ulkig ist das denn? Albert Einstein hat diese Denkweise als die einzig wahre Definition von Wahnsinn postuliert.
Was nutzt der Blick zurück, wenn er durch die erkenntnisblinde Linse erfolgt? Aber wo kämen wir sonst hin, heißt es. Dazu gibt es aus der Feder des Schweizer Dichters und Pfarrers Kurt Marti eine herrliche Essenz:
Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte: "Wo kämen wir hin?" Und keiner ginge mal nachsehen, wo man hinkäme, wenn man hinginge.