Peter Mitchell will unterm EU-Schirm bleiben
Autor: Jochen Nützel
Wirsberg, Mittwoch, 22. Juni 2016
Der Ausstieg der Briten wäre eine Tragödie, sagt Peter Mitchell. Der Londoner, der in Weißenbach lebt, setzt seine Hoffnung in die "vernünftigen Kräfte".
Das Wetter? Very British. Nieselregen. Dafür hätte Gartendesigner Peter Mitchell nicht von London nach Weißenbach ziehen müssen. Egal, dann eben unter den Schirm und in den hinteren Teil des "Leepswood"-Anwesens, wo der blaue Baum herausragt. Mitten drin ein Steinhaufen. Ein "Cairn", wie es der Brite nennt; ein mystischer Ort, rituell bedeutsam. "In meiner Heimat legen Menschen, die auf einen Hügel laufen, einen Stein auf so ein Steinmal. Es soll dafür sorgen, dass jeder Wanderer auch im tiefsten Nebel den Weg zurück findet."
In diesem tiefen Nebel, den der Engländer "mist" nennt, wähnt Peter Mitchell eine ganze Nation. Seine Nation. Beim Stichwort "Brexit" nimmt das Gesicht des 51-Jährigen ernste Züge an.
"Es wäre schlichtweg eine Tragödie für das Land, aber auch für Europa, sollten die EU-Gegner das Referendum gewinnen." Heute entscheidet es sich, ob es auf der Insel "Bye bye Brüssel" heißt oder nicht.
Peter Mitchell schaut in seine Tasse Tee, als könne er in ihr die Zukunft ergründen. "Ich zähle auf die vernünftigen Kräfte in meiner Heimat und darauf, dass sie erkennen, welche politischen, ökonomischen und nicht zuletzt sozialen Folgen der Austritt hätte. Nur als vereintes Europa können wir dauerhaft konkurrieren mit China und den USA. Und wir sollten nicht vergessen: Wir verdanken der Einheit Europas eine lange Phase des Friedens und Wohlstands."
Separatismus hilft keinem
Traut man den Umfragen, dann zählen solche Argumente heute, am Tag des Referendums, für gut die Hälfte seiner Landsleute nicht.
Sie fühlen sich am Gängelband Europas, vor allem Deutschlands. "Ich weiß, die Engländer und die Deutschen, das ist ein schwieriges Thema. Mein Onkel hat im Zweiten Weltkrieg in der Navy gedient. Aber mittlerweile profitieren wir doch alle voneinander." Diese Zeiten der Separation und des Rassismus sollte längst der Vergangenheit angehören.Rassismus - das sei eine der große Trumpfkarten, die die Brexit-Befürworter spielen. "Da ist auf der einen Seite die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten. Wenn sich dazu die Ignoranz gesellt, wird es wirklich prekär", sagt Peter Mitchell. In London, wo er geboren wurde und mehr als drei Jahrzehnte lebte, ist die Vielfalt der große Gewinn für die Stadt, sagt er. "Dort werden 300 Sprachen gesprochen. Diese Mischung ist eine Bereicherung und keine Bedrohung." Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht er explizit ein Lob aus für ihre gezeigte Willkommenskultur. "Das ist großartig. Sich Frauen und Männern anzunehmen, die vor Krieg und Diktatur fliehen: Das ist es doch, was uns als menschliche Wesen ausmacht, oder nicht?"
Eine rhetorische Frage für einen weltoffenen Mann wie den 51-Jährigen. Er hat in Australien gelebt und den USA. "Dort war ich der Ausländer. Ich sprach zwar die gleiche Sprache, aber integriert fühlte ich mich nicht. Ich weiß, wie sich das anfühlt, nicht wirklich dazuzugehören. Es ist kein schönes Gefühl. Dieses Gefühl aber gibt man just den Menschen, die von außen zu uns kommen." Es sei an der Zeit, der Engstirnigkeit, die aus diffusen Sorgen gespeist werde, eine weltoffene Grundhaltung entgegen zu setzen.
"To be open minded" nennt es der Weißenbacher: Weg mit den Scheuklappen, den Geist wach halten für Neues, für Anderes. Es sei schon immer die Stärke des Vereinigten Königreiches gewesen, Verschiedenartigkeit zuzulassen und den größtmöglichen Benefit für alle draus zu schlagen. "Als in den 1950er Jahren die Pakistani kamen und die Inder, um beispielsweise in der Textilindustrie zu arbeiten, da gab es zunächst viele Ressentiments." Und heute? Diese Menschen haben die Kultur durchdrungen, ihr Essen ist in vieler Munde, ihre Musik fand Eingang in den Brit-Pop. Londons neuer Bürgermeister, Sadiq Khan, ist ein Abkömmling dieser pakistanischen Einwanderer. Die Liste der erfolgreichen Immigrantengeschichten ist lang. Sich jetzt abzukapseln, regelrecht einzuigeln, sei ein Rückfall in reaktionäre Zeiten. Das, findet Peter Mitchell, gelte es unter allen Umständen zu verhindern.
Dass der britische Premier David Cameron das Referendum überhaupt ins Rollen gebracht hat, sei der Uneinigkeit seiner konservativen Partei geschuldet. "Es war ein Versuch, die Lager zu vereinen. Hoffentlich geht das nicht nach hinten los." Peter Mitchell blickt mit Sorge in seine alte Heimat.
In Weißenbach ist der Landschaftsarchitekt zwar geografisch weit weg, aber das Thema durchdringt seinen Alltag. Er werde in jedem Fall gegen den Ausstieg votieren. Eine neue Heimat hat er auf einem alten Bauernhof gefunden, wo er sich mit seiner Frau Silka Gebhardt, die er in London kennenlernte, künstlerisch verwirklichen kann. Das krasse Gegenteil zu einer pulsierenden Mega-City, inmitten von Natur pur. Zwei Laufenten kreuzen den Weg des Großstädters; aus dem Schuppengiebel gucken zwei Jungfalken herab.
Der Blick des Briten wandert zur ausgebauten Werkstatt-Scheune, in der die Betonfigur des Johann, die bald im Ort Platz nimmt, ihrer Vollendung harrt. Im Haus werkelt eine kanadische Austauschschülerin. Das Anwesen direkt neben dem Feuerwehrhaus steht sinnbildlich für Weltoffenheit und ein gelebtes Miteinander der Nationen. Dieses "Come together" ist hier keine bloße Floskel. Insofern schmerzt es den Briten umso mehr, wie sich seine Landsleute durch ein mögliches Nein zu Europa ins Abseits bugsieren könnten. Was danach käme, nach einem - zum jetzigen Stand nicht unmöglichen - "NO"? Abgesehen davon, dass Frankfurt, Mailand oder Amsterdam in den Startlöchern stehen, um den Finanzplatz London zu beerben, sieht Peter Mitchell neben den wirtschaftlichen vor allem die Gefahr eines politischen Vabanque-Spiels. "Ich glaube nicht, dass es danach nur einem Briten besser geht. Die neue Situation wäre nicht wirklich kalkulierbar. Das aber gibt keiner der EU-Gegner zu."