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Missbrauchsprozess: Der Vorfall mit dem roten Kleid


Autor: Stephan Tiroch

Kulmbach, Dienstag, 20. Oktober 2015

Gegrapscht, gegriffen oder nur berührt? Im Mammutprozess wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch geht es um jedes Wort, um Nuancen und den Konjunktiv.
Am Landgericht Bayreuth findet der Mammutprozess gegen einen 71-jährigen Mann statt, der seine Tochter, seine Ex-Frau und seine zwei Enkeltöchter missbraucht und vergewaltigt haben soll.  Foto: Stephan Tiroch


Wie der Mammutprozess wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung vor dem Landgericht Bayreuth ausgeht, kann derzeit noch niemand sagen. Aber nach den mutmaßlichen Opfern der Übergriffe - also Tochter, Ex-Frau und Enkelin des 71-jährigen Angeklagten - hat am Dienstag eine weitere Zeugin den Mann belastet. "Ich habe ihn nicht anders gekannt, er hat überall rumgefummelt", erklärt die 54-jährige Frau und berichtet von einem Vorfall, als der Angeklagte sie an der Brust begrapscht habe.


Schwere Vorwürfe

In dem Verfahren muss sich der Angeklagte wegen schwerer Vorwürfe vor der Ersten Großen Strafkammer verantworten. Er soll seine Tochter (48) von Jugend an vergewaltigt haben - angeblich über 20 Einzeltaten. Ferner legt ihm die Staatsanwaltschaft die Vergewaltigung seiner Ex-Frau (69) zur Last sowie sexuellen Missbrauch seiner beiden Enkelinnen und einer Freundin der Mädchen.

Der Angeklagte schweigt nach wie vor. Kein Wort aus seinem Mund, als er von seiner Tochter, von seiner Ex-Frau und einer Enkelin schwer belastet worden ist. Für ihn spricht sein Verteidiger, der Hamburger Rechtsanwalt Johann Schwenn. Er vermutet ein Komplott gegen seinen Mandanten und versucht, die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen zu erschüttern.

Hier liegt auch das Hauptproblem des Prozesses. Wenn es kein Geständnis gibt, muss das Gericht die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen überprüfen. Das bedeutet: quälend lange Vernehmungen mit Fragen, die bis ins kleinste Detail gehen und das Seelenleben ausforschen. Für die mutmaßlichen Opfer keine leichte Sache.


"Heute schon Sex gehabt?"

Kein vorteilhaftes Bild vom Angeklagten zeichnet am Dienstag eine Nachbarin und Freundin der Hauptbelastungszeugin. Ständig seine anzüglichen Sprüche wie "Heute schon Sex gehabt?" seien ihr sehr unangenehm gewesen, sagt die 54-jährige Frau. Sie selbst habe auch schon mit dem Mann als Grapscher Bekanntschaft gemacht.

Der Vorfall hat sich nach ihren Worten vor einigen Jahren bei der Kommunionfeier einer Enkelin im Wohnhaus der Familie ereignet. Sie habe damals ein rotes Etuikleid getragen, als sie der Angeklagte von hinten an die Brust gegriffen habe. "Ich sagte, er soll es lassen - und dann war auch nie mehr was", so die Zeugin, die sich auf Vorhalt des Verteidigers dahingehend korrigiert, dass sie "berührt" worden sei. Es geht um jedes einzelne Wort, zum Teil um Nuancen.

Der Rechtsanwalt will auch wissen, ob den Vorfall mit dem roten Kleid noch jemand mitbekommen habe. Als die Zeugin den Namen einer Freundin nennt, dringt Schwenn darauf, diese Frau ausfindig zu machen. Die Verhandlung wird unterbrochen, damit die 54-Jährige ihr Handy mit der Telefonnummer aus dem Auto holen kann.


Von Schweigepflicht entbunden

Eingehend befragt wird ferner die Psychotherapeutin der Hauptbelastungszeugin. Die Tochter des Angeklagten sei bei ihr seit Anfang 2014 in Behandlung, gibt die Psychologin an, die von der Schweigepflicht entbunden worden ist. Seither fänden im ein- oder zweiwöchigen Rhythmus Therapiesitzungen statt. Die Patientin, so die Zeugin, gebe an, dass sie unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen leidet, dass sie Alpträume hat, dass sie sich belastet und blockiert fühlt. Es träten wiederkehrende Bilder auf, in denen sie sich dem Vater ausgeliefert sieht.

"Glauben Sie ihr das?", fragt der Verteidiger und hakt erneut ein. Ihn stört es, dass die Therapeutin den Indikativ verwendet. Angebracht wäre der Konjunktiv, da sie die Äußerungen einer Dritten wiedergibt.

Die Antworten der Psychologin nutzt Schwenn, um weiter an seiner Verschwörungstheorie zu basteln. Als Indiz dafür nimmt er die Aussage, dass die Therapeutin mit ihrer Patientin Prozessverhalten im Gerichtssaal eingeübt hat. "Sie haben sie gecoacht", stellt der Anwalt fest. "Das ist meine Aufgabe", erwidert die Psychologin. Es gehe darum, die Patientin "im Hier und Jetzt" zu stabilisieren.


Am Mittwoch kommt die zweite Enkelin

Der Prozess wird heute fortgesetzt. Unter anderem befragt das Gericht die zweite Enkelin des Angeklagten. Mit einem Urteil in dem langwierigen Verfahren ist erst im Dezember zu rechnen.