Marktleugaster Recaro-Mitarbeiter sagen: "An ein Ende glaubte keiner"
Autor: Jochen Nützel
Marktleugast, Freitag, 06. Juli 2018
Beschäftigte des Kindersitzherstellers berichten von hoffnungsvollen Investitionen und Erfahrungen mit chinesischen Partnern.
Auf seinen Betrieb will er nichts kommen lassen, auch wenn dort jetzt "alles leider den Bach runtergeht". Gemeint ist Recaro Child Safety in Marktleugast. Der Mann setzt kurz ab, als müsste er sich sammeln aufgrund der jüngsten Hiobsbotschaft für die 117 Mitarbeiter, zu denen er zählt. Oder besser gesagt: zählte. In einer Mitteilung des Herstellers von Kindersitzen und -wagen wurde am Montagnachmittag das Aus für das Werk in der Guttenbergstraße 2 in Marktleugast verkündet. Die Mitarbeiter erfuhren es am Montagmorgen vom Investor höchstpersönlich.
"Wir haben uns wie vor den Kopf gestoßen gefühlt", sagt der Mann, dessen Namen er "unter keinen Umständen" in der Zeitung lesen will. Dass außerplanmäßig eine Betriebsversammlung einberufen wurde, machte ihn und seine Kollegen stutzig, wie er sagt. Die Nachrichten aus der Konzernzentrale waren "ein Nackenschlag". Ob das Ende der Produktion überraschend kam? "Dass es nicht immer rosig stand, das wurde uns nicht verheimlicht. Im Gegenteil, wir fühlten uns immer gut informiert. Aber wir dachten doch nicht, dass es gar nicht mehr weitergeht! An ein Ende glaubte keiner." Er und die anderen Mitarbeiter hatten gebangt, der Pleitegeier möge weiterfliegen.
Neue Hoffnung
Große Hoffnungen setzte die Belegschaft in die Ankündigungen der neuen Geschäftsleitung um Ralf Kindermann, der Anfang 2017 das Ruder übernommen hatte. Unser Informant berichtet von den in Angriff genommenen Umstrukturierungen in der Firma. "Einige aus der Belegschaft mussten von Marktleugast in die neue Niederlassung nach Stuttgart. Das wollte nicht jeder mitmachen, einige haben gekündigt."Dann kam das, was aus Mitarbeitersicht als "mittlerer GAU" bezeichnet wird. Gemeint ist die desaströse Testbewertung des ADAC im Juli 2017 für den Recaro-Sitz "Optia". Zitat: "Die Sitzschale löste sich beim Frontalcrash von der Isofix-Station und flog in hohem Bogen durch das Prüflabor. Im realen Unfallgeschehen könnten sich Kind und Mitfahrer schwer verletzen." Urteil: durchgefallen.
"Vorher ist alles problemlos gelaufen - und dann das", bekundet der Mitarbeiter konsterniert. Der Sitz, in China gefertigt, wurde aus dem Verkehr gezogen. "Man kann sich vorstellen, welchen Imageschaden es bedeutete." Andere Produkte aus dem Sortiment wurden dagegen mit guten Noten bedacht. Aber ein Ausreißer nach unten habe genügt, den Hersteller in ein schlechtes Licht zu rücken.
Hochmoderne neue Fertigung
Ein strahlendes Licht am Horizont bedeutete die Ankündigung aus der Führungsetage: Es werden neue Modelle gebaut - und zwar in Mannsflur! Neue Aufbruchstimmung herrschte in der Belegschaft, so der Mitarbeiter. "Es wurden hochmoderne Montagebänder angeschafft, mehrere Millionen in die Produktion investiert. In diesem Herbst hätte die Fertigung für das neue Modell anlaufen sollen. Die neue Linie war sogar moderner als die in Schwäbisch-Hall. Pro Monat waren 10 000 Einheiten geplant. Alle dachten, es geht in jedem Fall weiter."
Investor zieht die Reißleine
Dann aber zog Geldgeber und Investor Martin Putsch offenbar die Reißleine, "anscheinend von heute auf morgen", wie aus Belegschaftskreisen der BR gegenüber geäußert wird. Der Manager, der den Holdingsitz einst von Kaiserslautern (die Auswechselbänke des dortigen Fußballclubs FCK bestanden nicht zufällig aus einer Reihe von Recaro-Sitzen) nach Stuttgart zurückverlegt hatte, war persönlich bei besagter Betriebsversammlung in Marktleugast erschienen und hatte mit großem Bedauern mitgeteilt: Ende Juli ist Schluss. "Noch vier Wochen zuvor war verkündet worden, die neuen Modelle gingen in jedem Fall in die Fertigung. "So sorgten wir uns nie um Jobs."Nun also die Kehrtwende. Offizielle Begründung des Unternehmens gegenüber den Medien: "Grund für den Schließungsbeschluss ist eine anhaltend negative Umsatz- und Ertragsentwicklung der Gesellschaft, die sich seit Jahresbeginn noch einmal verschärft hat. Im Vorjahr eingeleitete, umfangreiche Maßnahmen zur Kostensenkung, zur besseren Positionierung in dem wettbewerbsintensiven Markt und zur Entwicklung neuer Produkte konnten zwar umgesetzt werden, reichen jedoch nicht aus, um die negative Geschäftsentwicklung zu kompensieren."
"Immenser Lagerbestand"
Insider sprechen davon, dass sich ein immenser Lagerbestand aufgebaut und der Verlust im operativen Geschäft monatlich ausgeweitet habe. Die Angestellten mussten angeblich Minusstunden schieben, da nicht viel Arbeit da war. "Es hieß: Wenn die neue Produktion erst einmal angelaufen ist, dann müssen wir das halt wieder reinarbeiten, vielleicht auch am Samstag." Es kam anders. Vor sechs Wochen habe es geheißen, aufgrund der Entwicklungen schaffe es Recaro nicht allein, man suche einen Partner. "Es waren einige da, aber keiner war ernsthaft genug interessiert." Auch dem neuerlichen Schulterschluss mit einem Unternehmen aus China sei man nicht abgeneigt gewesen. Wobei die Firma schon einmal schlechte Erfahrungen mit dem Land der aufgehenden Sonne gemacht habe, wie uns berichtet wird. In jene Phase, als noch Kai Weißkopf und Hartmut Schürg die Vorstandsverantwortung hatten, falle eine Phase der Überproduktion, an denen das Unternehmen vielleicht sogar bis heute zu knabbern hatte.
Über den Tisch gezogen?
Wenn die Aussagen aus Mitarbeiterkreisen stimmen, so sei damals in zwei Schichten produziert worden. "Wie verrückt, auch am Samstag", heißt es. Aus China seien Aufträge über Aufträge eingegangen - bis zum plötzlichen Stopp. Die Rede sei davon gewesen, die Chinesen hätten Recaro über den Tisch gezogen. "Wir saßen auf einem riesigen Lagerberg."
Betriebsrat? Fehlanzeige
Eine Arbeitnehmervertretung, sprich Betriebsrat, hat Recaro in Marktleugast nicht - und das trotz immerhin 117 Beschäftigter. "Im Nachhinein muss ich sagen, dass wir leider nicht organisiert waren. Aber da war irgendwie auch nie Interesse unsererseits da, die Gewerkschaft mit ins Boot zu holen. Dafür hat sich keiner stark gemacht. Ich weiß nicht, ob es von Seiten der Geschäftsleitung auch nicht gewünscht war. Der Lohn wurde immer pünktlich überwiesen, wir fühlten uns bei den Entwicklungen im Hause von unseren Führungskräften mitgenommen."
Mitarbeiter bekommen weiter Gehalt und sollen vermittelt werden
Das Aus für Recaro in Marktleugast hat auch in der Holding-Zentrale in Stuttgart Betroffenheit ausgelöst. Die Recaro Child Safety GmbH & Co. KG war ursprünglich aus dem Automotive-Bereich des Unternehmens hervorgegangen und ist seit 2011 eine eigenständige Gesellschaft. Am 31. Juli endet der Geschäftsbetrieb. Der Verkauf läuft bis 31. Dezember, die Bereitstellung von Kunden-Services inklusive Gewährleistung bis Ende nächsten Jahres.Die BR fragte in der Holding-Pressestelle in Stuttgart nach, welche Chancen die Mitarbeiter durch die gegründete Transfergesellschaft haben. "Die Gesellschaft ermöglicht es den Mitarbeitern, weiterhin für mindestens sechs und maximal zwölf Monate, je nach Kündigungsfrist, ein Gehalt zu beziehen und sich über gezielte Maßnahmen für den Übergang in ein neues Arbeitsverhältnis zu qualifizieren und vorzubereiten. Die Mitarbeiter gewinnen so Zeit und stehen nicht von heute auf morgen auf der Straße." Die Transfergesellschaft sei seitens der Recaro Holding mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet.
Der Firmensitz in Marktleugast werde bis Ende des Jahres für die Auslieferung von Kindersitzen und Kinderwagen weiter genutzt. Parallel suche man derzeit intensiv nach Mietern oder Käufern für die Immobilie, die für Produktions- und Montagetätigkeiten jeder Art geeignet sei.
Geschäftsführer Ralf Kindermann befinde sich laufend in Gesprächen mit potenziellen Partnern, aber auch den Beschäftigten. Er betont: "Die ersten Tage seit Verkündung der Schließung zeigen, dass ein breites Interesse einiger umliegender Unternehmen besteht, die qualifizierten Mitarbeiter für sich zu gewinnen. Wir werden, auch in Abstimmung mit der Transfergesellschaft, entsprechend Kontakte herstellen, die den Mitarbeitern weitere Chancen und Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt bieten können." Kindermann ist seit 2017 am Ruder.
Es hätten immer ernste Absichten bestanden, den Standort zukunftsfähig auszurichten, daher auch die umfassenden Investitionen, heißt es weiter. Kindermann sei angetreten, um die benötigte Trendwende einzuleiten.
Es sei auch viel erreicht worden. So konnten Maßnahmen zur Kostensenkung, besseren Positionierung im Markt und Entwicklung neuer Produkte umgesetzt werden. Leider hat es letztlich nicht gereicht." Die negative Entwicklung sei einer harten Wettbewerbssituation geschuldet, die sich Anfang des Jahres nochmals verschärft habe. Der Preiskampf in der Branche sei zum Teil ruinös.