Kulmbacher Professor zweifelt: Noch kein einig Vaterland
Autor: Stephan Tiroch
Kulmbach, Donnerstag, 01. Oktober 2015
Wolfgang Protzner, der die Wiedervereinigung nie aus dem Blick verloren hat, glaubt nicht, dass die deutsche Einheit nach 25 Jahren restlos gelungen ist. Zumindest gibt es statt Schandmauer und "Grauwüste DDR" viele blühende Landschaften.
Die Euphorie ist riesengroß gewesen. Überall in der DDR - von Rostock bis Dresden, von Cottbus bis Saalfeld - hat man in der Nacht vom 2. auf 3. Oktober 1990 die letzten Sekunden des deutschen Arbeiter- und Bauernstaats gezählt.
Dass es einmal so kommen würde, hat Wolfgang Protzner (73) immer geglaubt. Auch wenn er und seine Mitstreiter vom Kreiskuratorium unteilbares Deutschland mitunter als "letzte kalte Krieger" verspottet worden sind, hat der Freigeist und Querdenker und langjährige Kommunalpolitiker (CSU) die Wiedervereinigung nie aus den Augen verloren. Zusammen mit seinem Bruder Bernd Protzner ist er Anfang der Achtziger - ganz Visionär - seiner Zeit zehn Jahre voraus gewesen: Bei ihren Kulmbacher Sommergesprächen auf der Plassenburg tauschen sich hochkarätige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft von hüben und drüben aus.
Im Interview bei inFranken.de zieht der Historiker und Professor für Didaktik der Geschichte in Bamberg Bilanz und blickt zurück auf 25 Jahre einig Vaterland.
Frage: Sind Sie ein Berufsoptimist?
Wolfgang Protzner: Ja, bin ich (lacht)!
Das unterscheidet Sie von den meisten Deutschen, die geglaubt hatten, dass die Machtblöcke in Ost und West so fest zementiert seien, dass eine deutsche Wiedervereinigung unrealistisch ist. Waren Sie optimistischer?
Ja, in den achtziger Jahren hat man gemerkt, dass irgendwas los ist. Der Ostblock war überschuldt, überrüstet, technologisch im Hintertreffen und von alten Männer regiert. Man konnte es nicht wissen, aber man konnte es erahnen, dass der Ostblock kaputtgeht.
Wissen Sie noch, was Sie am 3. Oktober 1990 gemacht haben?
Nach einem Jahr Pause haben wir uns beim Mahnmal an der Berliner Brücke zur Kundgebung mit erstaunlich vielen Leuten getroffen. Auch eine Gastdelegation aus Saalfeld war da. Als einer, der immer an die Wiedervereinigung geglaubt hat, war es schön, diesen Tag miterlebt zu haben. In mir war eine tiefe nationale Zufriedenheit.
25 Jahre später - wie schaut Ihre Bilanz aus? Ist die deutsche Einheit gelungen? Oder hätte man etwas anders machen müssen?
Man konnte nichts anders machen. Das Grundgesetz schrieb und schreibt vor, dass man dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten kann. Das hat die DDR getan - mit allen Rechten und Pflichten, das konnte man nicht aufhalten. Die Folge waren riesige Transfermaßnahmen, die Politik hat sich seither aber herzlos und emotionslos entwickelt. Es kommen einem manchmal schon Zweifel, ob die deutsche Einheit nach 25 Jahren gelungen ist. Wir reden immer noch von den neuen und alten Bundersländern. Und Postkommunisten feiern fröhliche Urständ', sind in hohen Ämtern. Ich hätte erwartet, dass sich das Thema SED/PDS erledigt - wie man früher in der alten Bundesrepublik auch keine Flüchtlingspartei mehr gebraucht hat.
Nicht überall im Osten sind die blühenden Landschaften entstanden, die der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, versprochen hat.
Auch in Bayern gibt es nicht überall blühende Landschaften. Im Vergleich zur Grauwüste DDR, wo es nach Braunkohle gestunken hat und die Abgase den Himmel verdunkelt haben, haben wir jetzt verdammt viele blühende Landschaften. Man muss sich nur Dresden, die Seebäder oder Ost-Berlin anschauen. Sicher gibt es im Erzgebirge - wie im Frankenwald oder im Fichtelgebirge - auch Käffer. Aber daran sollte man die deutsche Einheit nicht messen.
Meinen Sie, dass die deutsche Teilung in den Köpfen der Menschen überwunden ist?
Nein, da ist noch viel drin. Ich hätte mir vor 25 Jahren nicht vorgestellt, dass jetzt noch einer von den neuen Bundesländern spricht.
Macht es Ihnen die niedrige Wahlbeteiligung in Ostdeutschland Sorgen oder die starke Rolle, die Rechtsextreme spielen?
Es ist eine Schande, und es soll sich jeder schämen, der nicht zur Wahl geht. Demokratie und Wahlrecht sind nicht gottgegeben, sondern wurden in Jahrhunderten schrittweise erkämpft. Das sollte man dankbar zur Kenntnis nehmen. Ich sag's deutlich: Wer das Geschenk der Wiedervereinigung bekommen hat - vor allem unsere ehemaligen armen Brüder und Schwestern im Osten - , der hat die verdammte Pflicht, zur Wahl zu gehen. Den demokratischen Staat darf man nicht durch Wahlboykott aushöhlen. Davon profitieren NPD und AfD. In der alten Bundesrepublik hat es auch verschiedene Ansätze rechtsradikaler Parteien gegeben. Die sind in die Parlamente gekommen, wurden aber immer wieder ausgeschwitzt - nicht durch Verbote, sondern durch Wahlentscheidungen. Ich hoffe, dass die neue Bundesrepublik NPD und AfD auch ausschwitzt. Dazu müssen die Leute aber zur Wahl gehen.
Der Landkreis Kulmbach hat von der Grenzöffnung enorm profitiert. 5000 Einwohner kamen damals hinzu. Die sind jetzt wieder weg ...
Seit 1945 hat Kulmbach insgesamt 25.000 Einwohner dazugewonnen, und 25.000 sind abgewandert. Wir hatten immer eine gewisse Fluktuation. Bedauernswert dabei ist, dass sich unsere weiterführenden Schulen zu Drainageröhren entwickeln und die besten Schüler abwandern. Daran müssen wir arbeiten. Ich bin das beste Beispiel, dass man hier erfolgreich und glücklich sein kann. Aber ich bin optimistisch und prophezeie, dass der Sog der Ballungszentren in nächster Zeit vorbei sein wird. Man kann über Telearbeitsplätze heute in jeder Einöde Geld verdienen und angenehm leben. Irgendwann werden diese Schickimicki-Großstädte ihre Anziehungskraft verlieren.
Hätte man nicht - zumindest in Berlin - einen Teil der Mauer stehen lassen müssen, damit künftige Generationen sich vorstellen können, was die deutsche Teilung bedeutet hat? Nämlich Schießbefehl, Stasi, Reise- und Ausreiseverbot.
Ja stimmt, man muss Symbole erhalten, den nachwachsenden Generationen zum lebenden Gedächtnis. Alle Leute, die jünger als 35 Jahre sind, haben kein eigenes Bewusstsein mehr vom Eisernen Vorhang. Dabei habe ich aber zwei Seelen in meiner Brust. Einerseits: Man hätte Teile stehen lassen sollen zur ewigen Erinnerung an die "ruhmreiche" Weltreligion des Kommunismus. Auf der anderen Seite muss man froh sein, dass die Schandmauer weg ist.