Kulmbacher Missbrauchsopfer wollte keine Bestrafung
Autor: Stephan Tiroch
Kulmbach, Donnerstag, 09. März 2017
Das Landgericht Bayreuth musste sich mit einem ungewöhnlichen Fall von sexuellem Missbrauch befassen.
Wenn ein Angeklagter verurteilt wird und ins Gefängnis muss, löst das Urteil beim Betroffenen keine Freude aus. Was aber nicht so oft vorkommen dürfte: dass ein Opfer keine Bestrafung des Täters will. So ein seltener Fall wurde gestern vor dem Landgericht Bayreuth verhandelt.
Es ging um sexuellen Missbrauch von Kindern - 43 Taten, jede für sich "ein besonders schweres kriminelles Unrecht", wie Richter Werner Kahler betonte. "Denn die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern ist ein ganz hohes Gut."
Aber, so Kahler, das Gericht müsse jeden Einzelfall genau betrachten. Und damit wurde es noch spezieller. Die Taten sollten nämlich gar nicht angezeigt werden.
Ungewollt Lawine losgetreten
Das Opfer, eine inzwischen 17-jährige Schülerin, vertraute einem Polizisten unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, was der Onkel getan hatte: "Es fing an, als ich zehn war." Immer wieder hatte er sie angefasst, zwischen den Beinen berührt. "Damit hat sie ungewollt eine Lawine losgetreten", sagte der Richter. Das Mädchen wusste nicht, dass der Beamte zu einer Anzeige verpflichtet war. Die Folge: Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im vergangenen Juli kam es in Kulmbach zur ersten Verhandlung. Das Amtsgericht verurteilte den Mann, Jahrgang 1982, zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe.
Gefängnis für den Onkel? Damit hatte die Schülerin nicht gerechnet. Das habe sie nicht gewollt, sagte sie zum Verteidiger Alexander Schmidtgall, der schon Berufung eingelegt hatte.
Der Kulmbacher Rechtsanwalt leitete einen Täter-Opfer-Ausgleich in die Wege: Es gab ein Treffen, und sein Mandant, so Schmidtgall, habe verstanden, was er seiner Nichte angetan hat. Sie habe sich gefreut, als er sich bereit erklärte, ihren Führerschein zu bezahlen. Eine Art der Wiedergutmachung, die nach Ansicht des Gerichts nicht zu kritisieren ist, wenn es familienintern akzeptiert wird.
"Ich bereue es sehr"
Der Angeklagte wiederholte auch vor dem Berufungsgericht sein Geständnis. Er entschuldigte sich: "Ich bereue es sehr." Auf Fragen, wie es zu den Taten gekommen sei, sagte er nur: "Ich habe nicht nachgedacht." Der Mann berichtete aber von einem Zwischenfall, als er ein Baby gewesen ist. Er sei im Krankenhaus "fallengelassen worden" und habe sich Kopfverletzungen zugezogen. Der Sturz hat nach Ansicht des Anwalts zu geistigen Einschränkungen geführt. Schuldunfähigkeit im strafrechtlichen Sinn liegt laut einem Gutachten aber nicht vor.
Sein Mandant, so Schmidtgall, befinde sich seit fast zwei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. "Er hat erkannt, dass er ärztliche Hilfe braucht, und tut alles, damit so etwas künftig nicht mehr passiert. Er hat eine Chance verdient."
Eine kurze Befragung konnte das Gericht dem Opfer dennoch nicht ersparen. Kahler wollte von der sehr unsicher wirkenden Zeugin wissen, ob sie dem Onkel noch böse sei. "Natürlich bleibt es in mir drin, was vorgefallen ist. Aber ich habe ihm verziehen und versuche, alles zu vergessen", sagte die 17-Jährige.
Familienverband funktioniert
Der Verteidiger erzielte den gewünschten Erfolg - das Gericht änderte das Kulmbacher Urteil ab und verkürzte die Freiheitsstrafe auf zwei Jahre. Nur so war überhaupt eine Strafaussetzung zur Bewährung möglich. "Das hat uns Kopfzerbrechen bereitet", meinte Kahler, der eine Reihe von mildernden Umständen anführte. Unter anderem gebe es eine günstige Sozialprognose, denn der Angeklagte werde von einem funktionierenden Familienverband unterstützt, auch durch einen Arbeitsplatz. Während die Verteidigung erfreut auf Rechtsmittel verzichtete, gab Staatsanwalt Roland Köhler keine Erklärung ab. Er ging zwar nicht davon aus, dass der Mann weitere Straftaten begehen wird, sah aber kein besonderen Umstände für eine Bewährungsstrafe.