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Kulmbacher Haus "Sternstunden": heile Welt für misshandelte Kinder


Autor: Alexander Hartmann

Kulmbach, Montag, 18. Februar 2019

Im Kinderhaus "Sternstunden" erfahren schwer misshandelte Jungen und Mädchen, wie man mit dem Erlebten lebt. Die Einrichtung ist einzigartig in Bayern, denn sie nimmt schon Kleinkinder wie auf.
Im Kinderhaus "Sternstunden" werden schwer misshandelte Jungen und Mädchen betreut. Symbolbild: epd


Zuneigung kannte Ole (Name von der Redaktion geändert) nicht. Im Obdachlosenheim aufgewachsen, hat er schon als Kleinstkind väterliche Gewalt erfahren. Ole musste mehrmals ins Krankenhaus, kam dann zu Pflegeeltern und in die verschiedensten Jugendhilfe-Einrichtungen, die er immer wieder nach kurzer Zeit verlassen musste. Halt fand er nirgends. Er war heimatlos, als er vor zwei Jahren als Vierjähriger das Kinderhaus "Sternstunden" betrat, in dem schwer traumatisierte Kinder eine Obhut finden.

Wie erstarrt

"Der kleine Junge war wie erstarrt, konnte keine Gefühle zeigen", erinnert sich Udo Dirks, der die Einrichtung der Geschwister-Gummi-Stiftung am Schießgraben leitet. Eine Einrichtung, die in Bayern ihresgleichen sucht. "Weil wir die einzigen sind, die schwer traumatisierte Kinder schon im Alter von drei Jahren aufnehmen", wie Edeltraud Dahlhoff erläutert, die den Fachbereich "Familie und Erziehung" der Gummi-Stiftung leitet.

Eine Beziehung aufbauen

Weil das Hilfswerk des Bayerischen Rundfunks das Projekt unterstützt hat, trägt das im Jahre 2015 eröffnete Kinderhaus den Namen "Sternstunden". Es ist ein neu gebautes Doppelhaus, in dem die seelischen Wunden heilen sollen, die den Kindern zwischen drei und acht Jahren von den eigenen Eltern zugefügt wurden. Wie Ole haben auch alle anderen 13 Bewohner Schläge, sexuellen Missbrauch und Vernachlässigung erfahren. "Sie konnten nie jemandem Vertrauen. Unser Ziel ist es deshalb, erst einmal eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, ihnen Sicherheit zu geben", sagt Udo Dirks.

Kinder können es nicht glauben

Keine leichte Aufgabe für das 16 Mann und Frau starke Mitarbeiterteam, das aus Sozialpädagogen, Trauma-Pädagogen, Erziehern und Psychologen besteht. "Denn es sind Kinder, die nicht glauben können, dass es Menschen gibt, die sich um sie kümmern und ihnen helfen wollen."

Dass es Schwerstarbeit ist, zeigt das Beispiel Oles. Emotional sei er "eingefroren" gewesen, als er nach Kulmbach kam, sagt der Trauma-Pädagoge. "Er war regungslos, konnte nicht mal weinen", berichtet Dirks. Ole habe in einer eigenen Welt gelebt, sprachliche wie auch körperliche Defizite gehabt, "weil sich Vater und Mutter nie um ihn gekümmert haben".

Er beißt und kratzt

Weil ihn keiner verstanden habe, sei es auch im Kinderhaus zu Problemen gekommen. Ole sei schnell aggressiv geworden. "Er hatte zu Hause erlebt, dass Probleme mit Gewalt gelöst wurden, und hat das dann auch in seiner neuen Welt versucht." Beim Brettspiel sind schnell die Figuren geflogen. Ole hat gekratzt, sogar gebissen. Dem Jungen zu zeigen, dass man nicht schlagen muss, sondern es andere Mittel gibt, um die Frustration zu bewältigen, das ist eine Aufgabe, der sich das "Sternstunden"-Team stellt. "Wir versuchen, dass die Kinder ihre eigenen Gefühle erkennen, Stress bewältigen, Stabilität entwickeln, mit ihrem Körper und ihrer Umwelt klarkommen."

Warten auf die Bestrafung

Einer Umwelt, der die Kleinen mit großer Skepsis begegnen. Hatten sie zu Hause ein Glas Wasser umgeschüttet, sind sie geflüchtet, weil ihnen eine Strafe drohte. Die Flucht ins Zimmer hätten sie anfangs auch im Kinderhaus ergriffen, "weil sie Gewalt erwartet haben", berichtet Dirks. Angst haben müssten sie natürlich nicht. Die Betreuer ließen die Kinder spüren, "dass sie hier bleiben dürfen, egal was sie machen". Dabei legen die Jungs und Mädels extreme Verhaltensweisen an den Tag, für die es laut Dirks eine Erklärung gibt. Spucken oder Beißen würden ihre Hilflosigkeit ausdrücken. Ole habe seine Notdurft im Zimmer verrichtet. Das sei kein Dummer-Jungen-Scherz gewesen, sondern ein Hilferuf. "Es war ein Zeichen, dass er da ist, auch wenn er nicht da sein wollte."

Vieles geht zu Bruch

Nicht nur Gläser gehen im Kinderhaus zu Bruch. Auch Fenster oder Türen werden immer wieder beschädigt. "Es ist gut, dass wir die Jugendwerkstatt der Gummi-Stiftung für Reparaturen an der Hand haben", sagt Edeltraud Dahlhoff, die deutlich macht, dass es bei Beschädigungen keine harten Strafen gibt, "auch wenn natürlich eine Art Wiedergutmachung gefordert wird, um zu zeigen, dass das so nicht geht".

Nicht nur die Türen, auch die Verletzungen der Kleinen sollen repariert werden. Wenn möglich, werden die Eltern in die Therapie eingebunden. Die Sehnsucht nach Vater und Mutter sei trotz der negativen Erfahrungen groß, weiß Udo Dirks: "Ole ist glücklich, wenn ihn seine Mutter besucht, selbst wenn er weiß, dass sie ihn vor der Gewalt des Vaters nicht schützen konnte."

"Eine erfüllende Aufgabe"

Über Jahre wird das Kinderhaus für ihn und die anderen Kids zum Ersatz-Elternhaus. Hier lernen die Jungen und Mädchen das Radfahren, Schwimmen und Skifahren, sie machen Ausflüge und fahren zusammen in den Urlaub - und das macht nicht nur den Kindern Spaß. Dirks: "Es ist auch für uns Pädagogen eine erfüllende Aufgabe."

Was wird aus Ole?

Ziel sei es, "dass die Kinder lernen, mit dem Erlebten klarzukommen". Ob Ole auf einem guten Weg ist? Der Trauma-Pädagoge ist davon überzeugt. "Ich habe ein Bild vor Augen, das ihn mit 35 Jahren als einen Mann zeigt, der sein Leben meistert." Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, der den Jungen nach dem mehrjährigen Aufenthalt im Kinderhaus wohl erst einmal in eine heilpädagogische Wohngruppe führen wird. Aus der Schockstarre ist der Sechsjährige inzwischen längst erwacht. Als der kleine Ole Udo Dirks im Besprechungszimmer entdeckt, strahlen seine Augen. Der Junge läuft auf den Betreuer zu, klammert sich an dessen linkes Bein. "Kommst du heute zu uns?", fragt er, sehnsüchtig auf ein "Ja" wartend. Ole lernt Glücksgefühle kennen. Er lernt im Kinderhaus, mit seinem Trauma zu leben.