Kulmbach war schon einmal Hot-Spot
Autor: Wolfgang Schoberth
Kulmbach, Sonntag, 28. Februar 2021
Zwei Techniker schleppen 1965 Pockenviren in Kulmbach ein. Die Stadt richtet Isolierstationen ein. Nach Massenimpfungen beruhigt sich Lage.
Pandemie-Humor nennt man's wohl: die täglichen Witze und Videos, die seit einem Jahr in den sozialen Medien und auf WhatsApp gepostet werden. Oft platt und dämlich, manchmal auch brüllend komisch. Schwarzer Humor, auch wenn es um Leben oder Tod geht, hat schon immer eine Rolle gespielt. Auch 1965 beim Pocken-Ausbruch in Kulmbach war's nicht anders.
Für die täglich einlaufenden realen "Pockengrotesken" hat die Bayerische Rundschau eine eigene Sparte reserviert. Eine Kostprobe vom ersten Tag: Eine Lehrerin einer Landkreisschule wird mitten im Unterricht gefragt, ob sie schon das Neueste von Kulmbach wisse. Als sie mit dem Kopf schüttelt, ruft der kleine Steppke ganz aufgeregt: "Na, in Kulmbach ist doch der Bock los!"
Gewöhnliche Grippe?
Trotz mancher Späße: Zum Lachen waren die knapp vier Wochen nicht. Die Stadt erlebte 21 dramatische Tage. Anders als der Corona-Ausbruch in Kulmbach am 13. März vergangenen Jahres, der sich durch die Zunahme der Infektionen ringsum abzeichnete, kamen die Pocken wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel.
Es beginnt auf den ersten Blick harmlos: Am 19. Oktober 1965 bricht bei Johann Krieger plötzlich Fieber aus, dazu hat er Gliederschmerzen und Hustenanfälle. Trotzdem geht der 47-jährige Mechaniker die nächsten Tage wieder zur Arbeit. Als sich die Symptome verstärken, sich zusätzlich Pusteln auf der Haut ausbilden, lässt er am 27. Oktober Dr. Artur Wagner kommen. Für seinen Hausarzt gibt es keinen Zweifel: Pocken!
Krieger hat sich zusammen mit seinem Chef, dem Landmaschinenhersteller Rudolf Ziemann, sieben Wochen in Tansania aufgehalten. Die beiden Kulmbacher haben einen Spezial-Transporter an eine Zuckerrohrplantage bei Ivakara geliefert und die Arbeiter eingewiesen. Sie haben im örtlichen Missionshospital übernachtet, in dem auch Pockenkranke untergebracht sind. Ihre Ängste vor einer Ansteckung hat der dortige Chefarzt zerstreut: Keine Sorge, sie sie seien ja gegen Pocken geimpft, sogar mehrfach, und sie hätten vor Antritt ihrer Reise die Schutzimpfung aufgefrischt.
Dr. Wagner alarmiert nach seiner Diagnose sofort das Kulmbacher Gesundheitsamt. Noch in der Nacht werden Blut-, Urin- und Speichelproben an das Bayerische Landesamt für Gesundheit und an das Hamburger Bernhard-Nocht-Institut geschickt. Tags darauf kommt die Bestätigung: Poxviridae, hochinfektiöse Schwarze Pocken.
"Killerviren, ffurchtbarer als die Pest"
Am 29. Oktober, nur Stunden nach dem Bescheid, wird in Kulmbach Seuchenalarm ausgelöst. Nach dem Bundesseuchengesetz wird ein Versammlungs- und Veranstaltungsverbot verhängt. Der gerade stattfindende Herbstmarkt in der Hardenbergstraße wird polizeilich geräumt. Tanz-, Theater-, Konzert-, Kino- und Sportveranstaltungen werden abgesagt. Gaststätten dürfen nur bis 18 Uhr geöffnet haben, Schulen und Kitas werden geschlossen.
Über Nacht rückt Kulmbach in den Mittelpunkt europäischer Wachsamkeit. Die überregionale Presse berichtet, Illustrierte bringen "Deutschlands Pockenstadt" auf die Titelseiten, Boulevardzeitungen schüren mit reißerischen Artikeln die bestehenden Ängste: "Killerviren", "Pocken - furchtbarer als die Pest", "Gegen die gefährlichste Krankheit der Geschichte gibt es auch heute noch kein Heilmittel".
Drei Querdenker
Die städtische Berufsschule an der Georg-Hagen-Straße wird in aller Schnelle in eine Quarantäne-Station umfunktioniert. In den Klassenzimmern werden dicht auf dicht Feldbetten aufgestellt. 54 Kontaktpersonen, überwiegend Mitarbeiter der Firma Ziemann und ihre Angehörigen, werden aufgefordert, sich einzufinden. Bis auf drei sind alle gern bereit.
Ein Mann aus der Fischergasse weigert sich hartnäckig wegen seiner Haustiere - Vögel - , die er nicht allein zurücklassen könne. Erst nach Verfügungen des Kulmbacher Amtsgerichts beugt auch er sich.
Auch die 71 Passagiere an Bord der Lufthansa-Maschine, mit der die beiden Kulmbacher zurück nach München geflogen sind, müssen für zehn Tage in Quarantäne. Für Johann Krieger, seine Frau, seinen Sohn sowie die Schwiegereltern wird im Krankenhaus ein eigener Trakt freigeräumt. Sie werden in Einzelzimmern untergebracht und wie in einem Hochsicherheitstrakt abgeschirmt.
Dramatische Zuspitzung
Kritik bleibt nicht aus. Manche halten die Maßnahmen für überzogen. Doch dann, am 2. November, verschärft sich die Situation schlagartig: Bei einem Arbeitskollegen von Krieger, Helmut Wülfert, der sich in der Berufsschule in Quarantäne befindet, brechen die Pocken aus. Der 27-jährige Schlosser wird sofort in die Isolierstation des Krankenhauses verlegt. In Kulmbach grassiert zunehmend Angst.
Zur Beschwichtigung richtet das Staatliche Gesundheitsamt unter Dr. Paul Freidank einen Krisenstab ein.
Der Einsatz der Bundeswehr wird erwogen. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsamtes tritt in Bonn vor die Presse und beruhigt die Öffentlichkeit: "Es besteht kein Anlass zu einer Pockenpanik. Wir haben die Angelegenheit völlig, und zwar auch international, unter Kontrolle", so zitiert die Süddeutsche Zeitung vom 3. November.
Liebesentzug für Ehemann
In der Bayerischen Rundschau gibt es in diesen Wochen nur ein Thema: Pocken. Der Leser wird, der Berichterstattung zu Corona heutzutage durchaus ähnlich, mit Wichtigem, doch auch mit viel Unterhaltungsware versorgt. Täglich erfährt man, wie die Isolierten, deren Zahl sich nach dem zweiten Pocken-Ausbruch auf 84 erhöht hat - 62 Männer, 18 Frauen und vier Kinder - die Zeit herumbringen: mit Schafkopfen, Tischtennisspielen, Fernsehgucken und Lesen vor allem.
Wie der Pocken-Ausbruch in Kulmbach eingedämmt worden ist, findet in den Lokalzeitungen und auch in der Presse des In- und Auslandes höchstes Lob. Der Arzt Dr. Norbert Krieger, der die Tage in der Isolierstation des Krankenhauses miterlebt hat, spricht von einem Top-Management. Dazu trägt auch die sensationell erfolgreiche Impf-Kampagne bei. In kürzester Zeit lassen 27 349 Personen ihre Pocken-Impfung auffrischen, mehr als Kulmbach Einwohner zählt.
Nachdem kein weiterer Ausbruch erfolgt, kann die Stadt das Veranstaltungsverbot am 12. November aufheben. Auch für die Insassen der Berufsschule endet der Zwangsaufenthalt. Sie werden nochmals gründlich desinfiziert und danach "ausgeschleust". Am 18. November öffnen auch wieder die Schulen und Kindergärten.