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Ist Gerechtigkeit immer gerecht?


Autor: Amelie Theuer

Kulmbach, Freitag, 19. Juni 2020

Immer mehr unterschiedliche Wertvorstellungen treffen aufeinander. Wie das die Rechtsprechung beeinflusst, erklärt Carsten Bäcker von der Uni Bayreuth.
Aufgrund des individuellen Rechtsempfindens kommt es nicht selten zu Diskussionen und zu Unverständnis über so manche Gerichtsurteile.  Foto: Archiv/ David Ebener, dpa


In heutigen Gesellschaften treffen vielfältige kulturelle Prägungen aufeinander. Das kann unter anderem dazu führen, dass die Menschen in einer Gesellschaft ein unterschiedliches Rechtsempfinden besitzen.

Doch, wie verhält es sich genau mit dem individuellen Rechtsempfinden und was hat es für Auswirkungen auf die Gesellschaft? In einem Interview mit Professor Carsten Bäcker vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie der Universität Bayreuth haben wir genauer nachgehakt.

Wenn Recht gesprochen wird, fühlt sich das nicht immer für alle gleichermaßen gerecht an. Warum?

Carsten Bäcker: Recht und Gerechtigkeit sind verschiedene Dinge. Zwar soll und will Recht gerecht sein, jedoch ist es das nicht immer. Auch ist Gerechtigkeit noch weit subjektiver als Recht, weswegen es unumgänglich zu Differenzen zwischen einem Rechtsspruch und einem Gerechtigkeitsempfinden kommen kann. Daher werden manche Menschen mit bestimmten Rechtssätzen einverstanden sein, andere nicht.

Die staatliche Gesetzgebung und die Rechtsprechung hängen stark vom Wertekanon einer Gesellschaft ab. Woran liegt das?

Der eine bestimmte Wertekanon einer Gesellschaft ist vermutlich eine Illusion. Immerhin aber gibt es herrschende Überzeugungen in Gesellschaften. Diese moralischen oder ethischen Überzeugungen fließen, in strukturell unterschiedlichem Ausmaß, in Gesetzgebung und Rechtsprechung ein, da Gerichte und Parlamente Abbilder der Gesellschaft und damit auch der in ihr vorherrschenden Wertvorstellungen sind.

Warum kann das individuelle Rechtsempfinden so oft vom geltenden Recht abweichen?

Abweichungen des geltenden Rechts vom individuellen Rechtsempfinden sind strukturell unausweichlich. Erst in einer homogenen, antipluralistischen Gesellschaft, die niemand ernsthaft wollen kann, wären derartige Abweichungen auszuschließen. Diese Abweichungen sind also ein Ergebnis von Freiheit. Die in Artikel 4, Absatz 1 Grundgesetz grundrechtlich geschützte Gewissensfreiheit belegt, dass dies im Grundsatz auch verfassungsrechtlich so gewollt ist. Bedenklich wird es freilich spätestens, wenn geltendes Recht schlechterdings nicht mehr mit dem überindividuellen Rechtsempfinden in Einklang zu bringen ist. Dann ist das Recht zu ändern.

Wie können Laien ihr individuelles Rechtsempfinden zumindest teilweise in einen Gerichtsbeschluss mit einfließen lassen?

Eine unmittelbare Einflussnahme von Laien auf die Rechtsprechung ist unserem Prozessrecht grundsätzlich fremd. Gerade im Strafrecht finden sich allerdings Ausnahmen, wie das Schöffengericht in Deutschland oder die Jury in US-amerikanischen Strafgerichten. Hier fungiert die Laiensicht als Korrektiv, die das Entfernen der Strafjustiz vom Unrechtsempfinden in der Laiensphäre verhindern soll.

In einigen Staaten der Welt, beispielsweise in US-amerikanischen, besteht noch die Todesstrafe. Würde diese in Deutschland auf Zuspruch bei einigen Menschen treffen?

In Deutschland ist die Todesstrafe abgeschafft (Artikel 102 GG). In anderen Ländern gilt die Todesstrafe dagegen noch immer als probates strafrechtliches Mittel. Dies zeigt, dass selbst in einer so existenziellen und extremen Frage, wie der nach der Todesstrafe, die Ergebnisse von allgemeinen praktischen Diskursen in unterschiedlichen Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Hintergründen unterschiedlich ausfallen können. Hier ist Recht in der Lage, für eine Gesellschaft Klarheit zu schaffen. Es ist deswegen ohne Belang, ob sich einzelne Stimmen in Deutschland die Möglichkeit der Todesstrafe wünschen würden. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob eine Abänderung des Artikel 102 GG verfassungsrechtlich an der sogenannten Ewigkeitsklausel des Artikel 79, Absatz 3 GG scheitern müsste oder sogar möglich wäre. Darüber hinaus begegne ein solches Änderungsansinnen aber jedenfalls hohen Hürden - rechtlich wie politisch.

Was ist Selbstjustiz, wie kann sie entstehen und was sind deren Folgen?

Selbstjustiz bezeichnet einen Vorgang, in dem jemand die Bestimmung dessen, was Recht ist, und die Durchsetzung davon selbst in die Hand nimmt. Das ist grundsätzlich systembedrohend und darf deswegen rechtlich nicht toleriert werden. Freilich empfiehlt es sich, die Gründe für das Ergreifen von Selbstjustiz zu hinterfragen - darin mag sich, wenn auch nur in seltenen Fällen, durchaus ein ernstes Defizit des Rechtssystems abzeichnen. Im Regelfall dürften die Motive aber in einer ungesunden Übersteigerung der eigenen Wahrnehmung von richtig und falsch oder gerecht und ungerecht liegen.

Warum halten prinzipiell mehr Menschen die über Sexualstraftätern verhängten Strafen als unverhältnismäßig mild?

Sexualstraftaten sind ein ganz besonders schwieriger Punkt, weil sie nicht nur seelische und körperliche Verletzungen zufügen, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper grob verletzen. Die aufgeklärte Gesellschaft ist hier - zurecht - besonders entsetzt. Dennoch muss auch hier nach dem Buchstaben des Gesetzes, professionell und objektiv geurteilt werden. Es ist am Gesetzgeber, für die einzelnen Straftaten mit dem Blick auf die verschiedenen Strafzwecke, zu denen Abschreckung zählt, den richtigen (besser: angemessenen) Strafrahmen zu bestimmen. Zusätzlich es ist am Strafgericht, das im Einzelfall innerhalb dieses Rahmens anzulegende Strafmaß auszusprechen. Diese gerichtliche Strafzumessung ist eine hoch komplexe und höchst verantwortungsvolle Aufgabe, in der eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielt. Es ist sinnvoll, dass diese Strafzumessung von Personen vorgenommen wird, die nicht nur fachlich qualifiziert sind, sondern auch die Geschehnisse aus einem gewissen emotionalen Abstand beurteilen können.

Halten Sie Reaktionen, wie beispielsweise das Äußern von Rachegedanken, für legitim?

Emotionale Reaktionen auf in besonderem Maße Emotionen auslösende Straftaten sind gänzlich normal, sie liegen in der Natur der Sache. Insofern sind derartige Reaktionen natürlich legitim. Es liegt aber ebenso in der Natur der Übertragung der Strafhoheit und des Gewaltmonopols auf den Staat, dass sich auch in diesen Fällen eigener Justizakte zu enthalten ist. Das kann eine ungeheuer harte Probe sein, auch und gerade für ansonsten rechtstreue Bürger. Hier muss der Staat zeigen, dass sein Justizapparat hinreichend sorgfältige und rasche Ermittlungen betreibt sowie angemessene Strafen ausspricht und vollzieht.