Im Herzen Rocker und Europäer
Autor: Redaktion
Kulmbach, Montag, 12. Sept. 2016
Jugendreporter Niklas Rauchmaul (16) hat in den Ferien die Partnerstadt Kilmarnock besucht und Bürgermeister Jim Todd getroffen.
Wenn ich Urlaub in einem anderen Land mache, möchte ich dieses gerne näher kennenlernen und erfahren, wie die Einheimischen leben und denken. So war es auch bei meinen Ferien in unserer Partnerstadt Kilmarnock. Als Jugendreporter der Bayerischen Rundschau bekam ich einen Termin bei Jim Todd, Provost von Kilmarnock. Todd ist Mitglied der linksliberalen Scottish National Party (SNP).
Die Stadt Kilmarnock ist die Hauptstadt des Bezirks East Ayrshire. Jim Todd ist einer der 32 Ratsmitglieder und gewählter Bürgermeister der Stadt. In Schottland heißt der Bürgermeister Provost.Kilmarnock hat etwa 48 000 Einwohner und ist seit 100 Jahren eine Industriestadt, doch dieser Sektor erleidet seit Jahren Einbußen.
Jim Todd ist eine ungewöhnliche Erscheinung, ein Rock'n'Roll-Fan durch und durch, trägt meistens Lederjacke und Sonnenbrille und fährt eine Harley-Davidson. Das ist ein eher ungewöhnlicher Mix für einen Bürgermeister. Was mich sehr gefreut hat, ist, dass er sich fast zwei Stunden Zeit für mich nahm, obwohl ich nur ein Schüler aus einer Partnerstadt bin. Weil er so ein großer Motorradfan ist, habe ich ihn zur nächsten Motorrad-Sternfahrt in Kulmbach eingeladen.
Welchen Herausforderungen muss sich Kilmarnock stellen?
Jim Todd: Der Whisky-Hersteller Johnnie Walker, der 1820 in unserer Stadt gegründet worden war, hat vor fünf Jahren den Standort Kilmarnock aufgegeben. Die gesamte Destillation und Herstellung wurde verlegt. Dadurch verloren wir 1000 Arbeitsplätze. Das war schwer zu verkraften. Aber als Kommunalverwaltung ist es unsere Aufgabe, die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern. Als Ergebnis werden wir im Oktober eine Hochschule für 6000 Studenten im Stadtzentrum eröffnen. Junge Studenten lieben Musik, dadurch wird Kilmarnock wieder zu einer lebendigen Stadt.
Gibt es dann vielleicht auch mal ein Rockfestival?
Ja, stimmt. Ich bin sehr begeistert von Rock'n'Roll, deshalb bemühen wir uns um Rockfestivals. Wir verfügen über genügend Unterkünfte und Bars. Wir haben ein Dutzend Bars in Kilmarnock, wo regelmäßig Live-Musik gespielt wird.
In Deutschland haben wir gespannt und auch ein bisschen besorgt das britische Referendum zum EU-Austritt verfolgt, davor auch die Bestrebungen Schottlands, sich von Großbritannien zu lösen. Wie stehen Sie zu diesem Thema?
2014 hatten wir das Unabhängigkeitsreferendum. Es scheint, dass es Missverständnisse bei einigen Kommentatoren im Vereinigten Königreich gibt, Schottland würde aus irgendwelchen Gründen England hassen. Das stimmt nicht. England, Schottland, Irland und Wales - wir sind alle Nachbarn. Wir sprechen die gleiche Sprache. Wir sind alle gleich, ob man in Südengland, Wales oder Irland lebt.
Aber es gibt Unterschiede?
Der einzige Unterschied ist, dass wir in Schottland die Dinge anders regeln. Wir haben ein Gespür für soziale Gerechtigkeit. Wir haben etwas dafür übrig, uns um andere Menschen in der Gemeinde zu kümmern, die sich nicht um sich selbst kümmern können. Unglücklicherweise ist das in England nicht so, speziell im Süden Englands - dort, wo das Geld sitzt. Wir glauben, dass soziale Gerechtigkeit das Herz jeder politischen Entscheidung sein sollte, die in einem Land getroffen wird. Wir haben nichts dagegen, wenn man reich wird, weil man hart gearbeitet hat und erfolgreich geworden ist. Es geht um Fairness, denn es ist ein Unterschied, Niklas, zwischen fairem und freiem Handel. Freier Handel hat keine Kontrollen, bei laxer Wirtschaft, nachlässiger Politik gibt es keinen Schutz für die Leute, die keine Stimme haben. Bei fairem Handel gibt es auch Schutzmechanismen. Westminster (Synonym für die britische Regierung, Anmerkung der Redaktion) ist nicht gerade eine faire Regierung. Sie ist in der Tradition verwurzelt - 500 Jahre alt. Es gab schon ein englisches Parlament bevor es ein Parlament im Vereinigten Königreich gab. Wir sind 306 Jahre in einem Bündnis, welches sich ausschließlich um die Reichen kümmert. Deshalb möchte ich Veränderung.
Was ist Ihre Meinung zum Brexit? Glauben Sie, dass er das Verhältnis zwischen unseren Städten beeinträchtigen wird?
Ich hoffe nicht! Meine Ängste vor dem Brexit sind: Momentan bin ich ein Bürger Europas. Ich bin ein Untertan des Vereinigten Königreichs. Und ich möchte kein Untertan sein, ich möchte ein Bürger sein. Ich habe nichts gegen die Königsfamilie, es ist nichts falsch an der Königin. Sie ist gut als Staatsoberhaupt und leistet gute Arbeit. Eine konstitutionelle Monarchie wie es das Vereinigte Königreich ist kann mit ihrer aktuellen Regierung Gesetze ändern. Wir haben hier aber keine Verfassung, die mich schützt, nur Gesetze. Das, was mich als Einzelnen schützt, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Das heißt, Sie sind für Europa? Ich war immer für Europa. Ich war immer dafür, dass das UK in Europa bleibt. Der Brexit hat die Situation verändert. In Zukunft möchte ich ein unabhängiges Schottland, um Teil von Europa zu sein. Ich habe das Gefühl, dass politische Kreise einige Unwahrheiten verbreitet haben. Man bekam nicht alle Informationen, nur die halbe Wahrheit. Nehmen wir zum Beispiel die Behauptung, dass jede Woche 350 Millionen Pfund in den zentralen Topf der EU eingezahlt werden und dass dieses Geld besser in unserem Gesundheitswesen angelegt wäre. Das stimmt so nicht. Jedes Land in Europa zahlt in den zentralen Topf, und der verteilt das Geld wieder an die Mitglieder und andere Länder. Viel Infrastruktur bei uns in den schottischen Highlands wurde durch europäische Fördermittel bezahlt. Oder auch Landwirtschaftshilfe. Die wird aufhören.
Was ärgert Sie noch?
Es gab keinen Plan B, wenn wir Europa verlassen, wie künftig die Unterstützung für diese Gebiete aussehen soll. Alles Geld fließt in die Zentrale, das heißt nach Westminster und wird im "Speckgürtel" ausgegeben, weil dort 20 Millionen Menschen leben. Europa dagegen ist immer darum bemüht, dass die kleinen Regionen auch Geld bekommen. Europa ist nicht perfekt, es braucht ein paar Veränderungen. Aber ich glaube nicht, dass die EU zu verlassen gut für uns ist - und für Europa auch nicht.
Die Partnerschaft zwischen Kulmbach und Kilmarnock ist ein wenig eingeschlafen. Was können wir tun, um unsere Beziehungen wieder zu verbessern?
Ja, die Sache ist die: Finanzen spielen eine große Rolle dabei, wie international eine Stadt sein will. Wenn Dienstleistungen und Finanzen von der zentralen Regierung gestrichen werden, kann man diese nicht bereitstellen, obwohl man das gerne täte. Wir müssen also Prioritäten setzen, wofür wir unser Geld ausgeben. Wir möchten sehr gerne gute Beziehungen zu unseren Partnerstädten unterhalten. Aber als Provost werde ich unter den gegenwärtigen Umständen nicht in unsere Partnerstädte reisen. Aber mit der modernen Technologie, mit Skype, mit Videokonferenzen, könnten wir eine wirklich gute Beziehung mit unseren Städten pflegen. Oder auch durch Erkundungen, Führungen, Schülerbegegnungen, den wechselseitigen Austausch bei Organisationen wie Polizei und Feuerwehr... Ich würde mich freuen, wenn es einen Austausch gäbe, in dem Feuerwehrleute für ein paar Wochen zu uns kommen würden, um zu erfahren, wie wir manche Dinge angehen und andersherum.
Ich bedanke mich herzlich für das Interview.
Ich möchte gerne noch meine besten Grüße nach Kulmbach schicken! Es wäre großartig, in Zukunft eng mit eurer Stadt zusammenzuarbeiten. Wir sind gerade dabei, Unterkünfte auf Zeit für Austauschgruppen in East Ayrshire einzurichten und freuen uns auf Gäste aus Kulmbach.
Das Interview führte Jugendreporter Niklas Rauchmaul.