Gesichter jüdischer Mitbürger
Autor: Wolfgang Schoberth
Kulmbach, Mittwoch, 18. Sept. 2019
Zur Interkulturellen Woche wird am Montag in der Buchhandlung Friedrich eine Schau mit Fotos Kulmbacher Juden eröffnet.
"Zusammen leben - zusammen wachsen". Das Motto der diesjährigen Interkulturellen Woche ist wunderbar gewählt für uns heute. Doch es trifft auch zu für viele Jahre des Zusammenlebens jüdischer und nichtjüdischer Kulmbacher vom Ende des 19. Jahrhundert bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten.
Die 30 bis 40 Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde, die 1903 ins Leben gerufen worden ist, waren für die kleine Stadt Kulmbach mit ihren 10 000 Einwohnern eine Bereicherung - in ihrer Sprache mit ihren vielfältigen jiddischen Anklängen, ihrem Brauchtum, der Leistungsfähigkeit ihrer Geschäfte. Die Kulmbacher kauften gern in den kleinen Läden für Damen-und Herren-Konfektion, für Unterbekleidung und Weißwäsche, für Kinderspielzeug und in den Schuhläden, die es in der Innenstadt gab. Sie galten als preisgünstig und äußerst flexibel. Über Nacht, so haben es Zeitzeugen erzählt, konnten die Inhaber durch ihre weiträumigen Beziehungen die gewünschte Ware besorgen.
Die Juden gehörten zum Stadtbild: Zum Beispiel, wenn sie am Schabbes mit ihren schwarzen Anzügen und Hüten zu ihrem Betraum im Hotel Krone (später: Café Beyerlein) spazierten oder als Pferde- und Viehhändler auf dem Marktplatz und Auf der Draht (Stadtpark) ihre Geschäfte machten. Selbstverständliches Miteinander, gute Nachbarschaft, oft Freundschaften, waren typisch bis an die Schwelle von 1933.
Ein Beispiel für die selbstverständliche Zugehörigkeit zu Kumpel-Cliquen ist Siegfried Weiß, Sohn von Henriette und Franz Weiß. Sein Vater, ein gelernter Schneider aus Ungarn, kommt 1902 nach Kulmbach und ist Mitbegründer der jüdischen Gemeinde. In der Spitalgasse 2 übernimmt er das Bekleidungsgeschäft seines Vorgängers. Seinem 1905 geborenen Sohn möchte er die Möglichkeit bieten aufzusteigen. Er scheut die beträchtlichen Kosten für das Schulgeld nicht und schickt ihn an die Realschule (Vorgänger des MGF-Gymnasiums).
Das Foto rechts zeigt ihn mit seinen Schulfreunden 1923 nach dem erfolgreichen Abschluss. Die jungen Herren haben sich festlich gewandet und sichtlich stolz zum Fotografen begeben. Um auch ihre männliche Reife zu demonstrieren, darf die Zigarette nicht fehlen. Siegfried schließt danach eine Schneiderlehre ab und steigt in die Textilbranche ein. In Augsburg wird er kaufmännischer Leiter eines großen Textilbetriebs und lernt dort auch die große Liebe seines Lebens kennen - die katholische Krankenschwester Kunigunde Brögmann, seine "Gundi".
Doch 1937 sieht er keinen anderen Ausweg mehr, den Nazis zu entkommen, als in die USA zu emigrieren. Nach dem Krieg gilt er seinen ehemaligen Freunden als tot, doch dann, im Jahr 1958, steht er plötzlich im Café seines Schulfreundes Simon Hartmann in der Spitalgasse 12. Die Kumpel von einst fallen sich in die Arme, hauen sich auf die Schultern, tanzen im Café umher, dass die Stühle purzeln - wie sich Margitta Müller, die Tochter Hartmanns, erinnert.
Siegfried kommt danach wiederholt nach Kulmbach, schließlich auch mit "Gundi", seiner Jugendfreundin, die er nach langem Suchen gefunden hat und 1961 heiratet.