Druckartikel: Cäsium im Hirsch? Halb so wild im Landkreis Kulmbach

Cäsium im Hirsch? Halb so wild im Landkreis Kulmbach


Autor: Jochen Nützel

Ködnitz, Donnerstag, 23. Oktober 2014

Das radioaktive Erbe von Tschernobyl lauert noch immer im Boden. Während in Thüringen vor dem Verzehr von Wildschweinen gewarnt wird, ist im Landkreis Kulmbach nach Amtsangaben alles im Lot.
Damwildhirsche in einem Gehege in der Gemeinde Ködnitz. Foto: Jochen Nützel


In Norwegen ist die Rentierjagd abgesagt worden. Nicht etwa zum Schutz der Tiere, sondern der Menschen. Denn das Wild ist radioaktiv verstrahlt, die zuständige Aufsichtsbehörde warnt eindringlich vor dem Verzehr des Fleisches. Bei Stichproben wurden hohe Cäsium-137-Werte von bis zu 8200 Becquerel (Bq) gemessen. Zum Vergleich: Der bundesweit gültige Grenzwert liegt bei 600 Bq. Die Rentiere haben in diesem Jahr besonders viele Pilze gefressen, deren Wurzelwerk (Mycel) atomar belastet ist. Atompilze sozusagen. Und das 28 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl.

Nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz rührt die Belastung der Pilze aus eben jenem Katastrophenjahr 1986. In Deutschland regnete die atomare Wolke ihre unheilvolle Ladung vor allem über dem Süden Bayerns ab. Das Cäsium von damals hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren - und ist damit immer noch im Boden vorhanden, aber eben nur noch in halber Dosierung.

Pilze nehmen das chemische Element über die Wurzeln auf. Die wiederum dienen vor allem in den kargen Wintermonaten Wildschweinen als Nahrung mit dem Ergebnis: Das Cäsium kann sich im Körper der Tiere anreichern.

Erhöhte Werte im Wildschweinfleisch

In Thüringen haben die Behörden jüngst wieder auf stark erhöhte Strahlungswerte im Wildschweinfleisch hingewiesen. Die Werte sind in der Tat Besorgnis erregend: 2013 wurden laut Gesundheitsministerium knapp 600 geschossene Tiere untersucht - bei fast jedem zehnten war der Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm überschritten. Dieses Fleisch darf nicht verkauft werden.

"Von diesen Werten sind wir hier zum Glück weit entfernt", sagt Ute Hechelmann. Die Tierärztin ist im Auftrag des Landratsamts am städtischen Schlachthof für die Fleischbeschau zuständig. Sie gibt Entwarnung: "Wildschweine beispielsweise finden in den Maisfeldern noch genügend Futter und müssen noch nicht tiefer im Wald nach Fressbarem im Boden wühlen." Mit einer möglichen Erhöhung der Cäsium-Konzentration sei daher erst in den Monaten Januar bis April zu rechnen, wenn die Tiere auf belastete Pilze ausweichen.

Dann bekommt die Expertin in ihrem Labor vermehrt Proben auf den Tisch, die den kritischen Grenzwert erreichen oder überschreiten. "Ich hatte heuer einen einzigen Ausreißer mit 1500 Bq." Im Schnitt liegen zwei bis drei Prozent der Fleischproben im Grenzwertbereich, in den besagten Wintermonaten etwa sieben Prozent. "Die Messungen dienen ja auch dazu, die belasteten Tiere auszusortieren, damit sie eben nicht zum Verkehr freigegeben werden."

Jäger bekommen für jeden Ausfall eine Entschädigung. Übrigens dürfen sie auf eigene Verantwortung das belastete Fleisch essen, wie Ute Hechelmann erklärt. "Da wird auch viel Fleisch eingefroren. Wer dann über Monate hinweg sporadisch von dieser Ware isst, der dürfte sich keiner allzu großen Gefahr aussetzen." Von einer lebensgefährlichen Verseuchung könne für die Region keine Rede sein.

"Leider alle in einen Topf geworfen"

Die Warnung vor belastetem Wildfleisch machte jüngst schnell die Runde, und das - wie so oft - ohne große Unterscheidung, welches Fleisch aus welcher Region tatsächlich bedenklich ist. "Genau das ist das Problem, dass leider immer alle in einen Topf geworfen werden", bedauert auch Lothar Krauß. Der Ködnitzer verkauft das Fleisch seiner Junghirsche, die er in mehreren Gehegen im Gemeindegebiet hält. Die staatliche Lebensmittelüberwachung hat erst im August eine unangekündigte Probe bei Krauß' Damwild gezogen. Das Ergebnis: weniger als ein Bequerel. Kein Anlass zur Beanstandung also.

Meine Tiere können ja gar keine angeblich verseuchten Pilze oder Flechten fressen", sagt Krauß energisch. Und er erinnert sich, als vor 28 Jahren in Tschernobyl der Reaktor explodierte und plötzlich alles an Wild und Pilzen quasi über Nacht auf dem Index stand. "Die bayerische Staatsregierung hat damals keine Unterscheidung zugelassen zwischen dem stärker betroffenen Süden und Oberfranken." Hier habe es weniger radioaktiven Fallout gegeben - "das hat die Politik aber nicht interessiert." Krauß sagt, er habe regelmäßig seine Tiere untersuchen lassen. "Über Werte von zwölf Bequerel Cäsium pro Kilogramm kamen wir nie raus."

Übrigens: Bei den allermeisten landwirtschaftlichen Produkten spielt nach Angaben des Bundesministeriums für Strahlenschutz die Belastung mit Cäsium schon heute kaum noch eine Rolle. Das Element binde sich an Tonminerale im Boden und gelange so nicht in Mais, Raps oder Weizen. Waldböden hingegen seien anders strukturiert und verfügten nicht über einen derlei mineralischen Anteil. Freies Cäsium im Boden könne also von den Pflanzen dort aufgenommen werden. Deswegen sollte man auf den Verzehr von Pilzen aus den belasteten Gebieten verzichten oder sie nur in Maßen essen. Bei Messungen in Bayern habe sich gezeigt, so das Ministerium, dass vor allem Trompeten-Pfifferlinge und Semmel-Stoppelpilze weit über den Grenzwerten belastet sein können, während Steinpilze und Pfifferlinge deutlich weniger Cäsium aufwiesen.


Unsichtbare Gefahr: Strahlenbelastung durchs Essen

Radioaktivität Wer eine Portion Pilze (220 Gramm) isst, die mit extrem erhöhtem Wert von 3000 Bequerel (Bq) pro Kilo belastet sind, dann entspricht das einer Belastung von 0,008 Millisievert. So viel radioaktiver Strahlung setzt sich auch ein Passagier beim Flug von Frankfurt nach Gran Canaria aus, rechnet das Bundesamt für Strahlenschutzvor.