Druckartikel: Wenn das Leben leichter wird

Wenn das Leben leichter wird


Autor: Andreas Schmitt

Stockheim, Montag, 10. Oktober 2016

Nicole Herrmann aus Haßlach bei Kronach kämpft gegen die Fettgewebekrankheit Lipödem, die Beine und Arme dicker werden lässt.
Noch vor wenigen Wochen hätte sich Nicole Herrmann so nicht gerne fotografieren lassen. Doch bereits nach der ersten Operation gegen die Krankheit Lipödem hat sie neue Lebensfreude getankt. Foto: Andreas Schmitt


Im Schwimmbad. Beim Reiten mit ihrem Pferd "Flirt with me", während des Treppensteigens und natürlich beim Blick in den Spiegel. Es gibt sie derzeit immerzu, die Momente, in denen Nicole Herrmann merkt, wie viel leichter ihr Leben binnen zweieinhalb Stunden geworden ist. Dank der ersten von drei Operationen (wir berichteten), mit der die 31-jährige Lipödem-Patientin gegen ihr Schicksal ankämpft.

"Vor der OP musste Frank in der Therme vor mir laufen, damit keiner meine dicken Beine sieht", erinnert sich Nicole Herrmann, die vor Kurzem ihren Freund geheiratet und ihren Mädchennamen Borg abgelegt hat. "Jetzt geh ich mit viel mehr Selbstbewusstsein baden."


3,2 Liter Fett sind weg

Jetzt, das ist seit dem 17. August. An diesem Tag ist die Frau aus Haßlach bei Kronach mit zwei Freundinnen nach Mühlheim an der Ruhr gefahren. Ihr Ziel: Eine Klinik, die sich auf Lipödem-Operationen spezialisiert hat. Dort unterzog sich Nicole Herrmann einem Eingriff, um sich das durch die Krankheit zu viel angelagerte kranke Fett absaugen zu lassen. Zunächst wurde ihr ein Lösemittel in die Unterschenkel und Knie gespritzt, anschließend fiel sie in einen narkosebedingten Dämmerschlaf. Als sie nach zweieinhalb Stunden aufwachte, war sie insgesamt 3,2 Liter "leichter".

"Wenn man die Behälter sieht, wird einem nochmal so richtig klar, was einen jahrelang gequält hat", sagt Nicole Herrmann, die seit ihrem 14. Lebensjahr von Lipödem eingeschränkt wird. Körperlich wie seelisch.
"Manchmal tut es schon weh, wenn Frank mich nur leicht an den Beinen berührt", erinnert sie sich. Auch Alltagshandlungen wie Treppensteigen oder Gassigehen führten oft zu Schmerzen. Ganz abgesehen von ihrem größten Hobby, dem Reiten. "Die Innenseiten waren voll mit blauen Flecken", erzählt Nicole Herrmann.


Kasse lehnt Operationskosten ab

Aber es waren nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Schmerzen, die sie belasteten. "Wenn man als junge Frau ständig Sport macht, aber Arme und Beine trotzdem dicker und unförmiger werden, nagt das am Selbstbewusstsein."

Zumal die Krankheit nicht heilbar ist und mit der Zeit immer schlimmer wird. Bei Nicole Herrmann wurde sie recht frühzeitig erkannt, im ersten von drei Stadien der Hautveränderungen. "Ich kenne 40-Jährige, die nur noch mit einem Rollator laufen", sagt die Haßlacherin.

So weit wollte es Nicole Herrmann nicht kommen lassen. Sie selbst macht derzeit eine Umschulung zur Kauffrau im Gesundheitswesen und hätte die 15 000 Euro, die die insgesamt drei notwendigen Operationen kosten, nicht aufbringen können. Ihr Mann Frank übernahm die Kosten. Denn die Krankenkassen, in diesem Fall die Bahn-BKK, stufen laut Herrmanns Aussage Lipödem-Eingriffe als Schönheitsoperationen ein und zahlen deshalb nichts.

Ein Vorgehen, das die Betroffene ärgert: "Natürlich geht es auch um die Optik, aber das ist letztendlich zweitrangig. Das Wichtigste ist, dass die Schmerzen weggehen", sagt Nicole Herrmann, die die Ablehnung der Kasse nicht verstehen kann.

Schließlich würden ihr pro Halbjahr Kompressionsstrümpfe im Wert von rund 1000 Euro und dreimal in der Woche Lymphdrainage gezahlt. "Da kommt einiges an Geld zusammen, das sich die Kasse dann ja langfristig sparen würde."

Zwar dämmen die Operationen die Krankheit nicht lebenslang ein. Aber, so sagt Nicole Herrmann, die sich seit einem Jahr intensiv mit Lipödem befasst und sich via Facebook mit anderen Betroffenen austauscht: "Es gibt Studien, dass es nach 15 Jahren noch 97 Prozent der Patientinnen besser geht als vorher." Deshalb will sie sich nach Abschluss ihrer Operationen auch einen Anwalt nehmen und gegen die Kasse klagen.

Zunächst steht jedoch die eigene Gesundheit im Fokus. Die erste OP ist gut verlaufen, ganz abgeklungen sind die Schwellungen aber noch nicht. Bis zum zweiten Eingriff, währenddessen im November das krankheitsbedingte Fett und die Körperdellen an Oberschenkeln, Hüfte und Po beseitigt werden, muss sie ununterbrochen unbequeme Kompressionsstrümpfe tragen. Im Dezember folgt dann die dritte Operation an den Armen.

"Ich freue mich, dass es besser wird. Wenn alles fertig ist, ziehe ich den Mini-Rock wahrscheinlich gar nicht mehr aus", lacht Nicole Herrmann, die schon jetzt deutlich mehr Lebensfreude hat als vor einigen Wochen. Zum Beispiel trägt sie wieder enge Hosen, was sie auch gerne zeigt. So wie beim Fotoshooting mit unserer Zeitung, als sie im heimischen Garten selbstbewusst vor der Kamera posierte.


Kommentar von Andreas Schmitt: Ein System für Kranke

Gesundheitssystem. Der Begriff bezeichnet die Beziehung zwischen Krankenkassen, Ärzten, Patienten und Politik. Es ist ein kompliziertes System - und es trägt einen völlig falschen Namen. Denn es kümmert sich in vielen Fällen nicht darum, dass Menschen gesund bleiben - sondern nur um die Folgen von Krankheit.

Eine These, für die der Fall Nicole Herrmann ein Paradebeispiel ist. Die 15 000 Euro teuren Operationen, die langfristig neue Hoffnung geben und verhindern, dass sich die Krankheit verschlimmert, werden nicht gezahlt.
Kompressionsstrümpfe und Lymphdrainagen, die eine unbefriedigende Lebenssituation lediglich erträglicher machen, übernimmt die Kasse. Je nach Schwere der Krankheit zwischen 5000 und 10 000 Euro pro Jahr. Die Operationen hätten sich also in zwei bis drei Jahren gerechnet.

Doch das Beispiel Nicole Herrmann ist kein Einzelfall. Wer etwas für seine Gesundheit tun möchte, der hat es nicht leicht. Krebsvorsorge bei Männern unter 35: Fehlanzeige. Zusatzuntersuchungen beim Frauenarzt: teilweise richtig teuer. Termine beim Facharzt: lange Wartezeiten.

Wer aber eine schwere Krankheiten hat, dessen Kosten belasten die Kasse. Und zwar oft jahrelang - und das in Zeiten, in denen die Medizin modernste Möglichkeiten der Früherkennung besitzt. Hier ist die Politik gefordert, zu handeln und Reformen anzustoßen. Auch im eigenen Interesse: Nur gesunde Menschen können beruflich erfolgreich sein und kräftig in die Kassen einzahlen.