Stockheim versank in Resignation
Autor: Gerd Fleischmann
Stockheim, Montag, 08. Juni 2020
Die überraschende Stilllegung der Glashütte in Stockheim löste im Jahr 1930 ein wirtschaftliches Drama aus.
Vor 90 Jahren befanden sich die Bürger von Stockheim in einem Schockzustand. Der Grund: Die Champagnerflaschenfabrik Gebrüder Sigwart & Möhrle, 1877 gegründet, schloss Ende Februar 1930 die Fabriktore für immer. Die Arbeitslosenquote schnellte auf über 70 Prozent. Schließlich fanden in Spitzenzeiten in der einstmals hervorragend etablierten Glasfabrik bis zu 400 Frankenwälder Arbeit und Brot. Nun standen die Glasmacher über Nacht vor dem Nichts.
Verschärft wurde die angespannte soziale Lage durch die Stilllegung der beiden Puppenfabriken Carl Hartmann (1926) sowie Brückner & Och (1930). Zusätzlich fehlten Impulse durch den Steinkohlebergbau, denn bereits im Frühjahr 1927 erfolgte das vorübergehende Aus der Kohleförderung.
Im Haßlachtal machte sich Resignation breit. Nirgends waren in jener Zeit, die als Weltwirtschaftskrise für permanente Zukunftsängste sorgte, Silberstreifen am Horizont nur ansatzweise erkennbar.
Spezialisten aus Schwarzwald
Alles hatte so hoffnungsvoll begonnen, nachdem die Glasmacher Carl, Heinrich, Franz, Ernst und Wilfried Sigwart sowie Schwager Carl Möhrle - aus Buhlbach im Schwarzwald kommend - 1877 in Stockheim zunächst im alten Schloss, und dann ab 1885 unterhalb des Bahnhofs mit mehreren Fachleuten aus dem Königreich Württemberg eine umfangreiche Glasproduktion ins Leben riefen. Als der Glasfabrikant Willfried Gottlob Böhringer, ebenfalls aus Buhlbach stammend, das Sigwart-Möhrle-Team mit weiteren Glasbläserspezialisten aus dem Schwarzwald und aus Böhmen 1879 verstärkte, boomte das Unternehmen förmlich. Mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen belohnt, konnte ein attraktiver Absatzmarkt im In- und Ausland erschlossen werden. Bereits bei der Weltausstellung 1889 in Paris zeigten die Glasmacher aus dem Frankenwald erfolgreich Präsenz.
Goldene Zeiten
Die Bergwerksgemeinde erlebte goldene Zeiten. Von 1870 bis 1900 schnellte die Einwohnerzahl - insbesondere bedingt durch den Zustrom an Glasspezialisten - innerhalb von nur drei Jahrzehnten von 500 auf 1000.
Rund um die Uhr arbeiteten an drei Glasöfen - der letzte wurde 1899 von Civil-Ingenieur Robert Dralle nach dem hochmodernen Siemens-Regenerativsystem erbaut - bis zu 400 Beschäftigte. In drei Schichten produzierten die Glasbläser an jeweils 16 Werkstätten vor allem Champagnerflaschen. Die mundgeblasenen Produkte fanden überall ihre Abnehmer. Mit dem Zweigwerk in Homburg im Saarland ab 1911/12 schaffte man sich ein weiteres wirtschaftliches Standbein in unmittelbarer Nähe der Absatzmärkte.
Der Erste Weltkrieg sowie die Superinflation von 1923 bremsten den Höhenflug der Stockheimer Glasproduzenten ganz gewaltig. Eine Krise jagte die andere. Und was besonders schlimm war: Die Verantwortlichen verschliefen die technologische Entwicklung: Denn nach 1900 lösten zunächst Glasblasmaschinen und dann auch Halbautomaten Zug um Zug das klassische Mundblasen bei der Massenproduktion gänzlich ab. Die bis zu 1,5 Meter große Glasmacherpfeife hatte größtenteils ausgedient. Allerdings nicht in Stockheim!