Sexueller Missbrauch im Kreis Kronach: Wenn Fassungslosigkeit in Angst, Wut und Selbstzweifel umschlägt
Autor: Anna-Lena Deuerling
Kronach, Mittwoch, 25. Sept. 2019
Schlagzeilen, die erschrecken und lähmen: Wenn Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, ist die Fassungslosigkeit groß. Wie schnell diese Fassungslosigkeit in Angst, Wut, Hass und Selbstzweifel umschlägt, berichtet die Mutter eines mutmaßlichen Opfers aus dem Landkreis Kronach.
Lara* (Name geändert) ist kein Kind mehr. Wenn sie auf dem Sofa liegt und in die Leere starrt. Wie betäubt von den eigenen Gedanken. Wenn sie nachts auf dem Fußboden liegt und nicht im Bett schlafen will. Nicht schlafen kann. Wenn sie jede Berührung scheut und zusammenzuckt. Immer dann wird ihrer Mutter bewusst, dass Laras Kindheit vorbei ist. Dabei ist das Mädchen gerade einmal drei Jahre alt.
"Das ist kein Kind mehr. Das ist nicht mehr mein Kind", sagt Laras Mutter Stefanie*. Schuld daran soll der Vater haben. Sicher kein Vorwurf, den eine Mutter leichtfertig macht. Doch dieser Gedanke an das Undenkbare verfolgt sie seit Wochen. Seit ihr Kind nach Hause kam und plötzlich kein Kind mehr war. Seit Lara das widerfahren sein soll, was sich eine Mutter nicht am schwärzesten Tag der Welt vorstellen vermag: Dass der eigene Vater sich am gemeinsamen Kind vergangen haben soll. Seitdem eine verstörte Dreijährige mit ihren unbedarft kindlichen Worten das beschrieb, was sich juristisch auf wenige Silben bringen lässt: sexueller Missbrauch.
Täter oft bekannt
"Missbrauch passiert oft im engsten Familienkreis", weiß Anke Pertsch vom Kreisjugendamt in Kronach. Laut Kriminalstatistik sind das rund 25 Prozent der Fälle. In rund zwei Drittel aller Fälle kannte das Kind den Täter - es war der Cousin, der Trainer, ein Nachbar, der gute Bekannte der Familie. Oder die gute Bekannte, Tante oder Trainerin. In zehn bis 20 Prozent der Übergriffe werden Frauen zu Täterinnen. Bei Lara soll es ausgerechnet der eigene Vater gewesen sein.
Die Eltern von Lara leben getrennt. Die Beziehung belastet, die Vergangenheit kompliziert. Das Sorgerecht teilen sich die beiden, jedes zweite Wochenende ist das Kind bei ihm. Die Regelung scheint zu funktionieren, Stefanie vertraut ihm. Bis Lara nach einem Wochenende bei ihm nach Hause kommt. Und anders ist. "Wir durften sie nicht umarmen, wir durften sie nicht anfassen", erinnert sich Stefanie heute. Alle Ablenkungs- und Aufheiterungsversuche scheitern. "Ich habe mir nicht viel dabei gedacht." Schließlich habe die Tochter schon früh ihren eignen Kopf entwickelt, sei auch mal bockig. Doch etwas ist anders.
Das Kind öffnet sich zuerst dem Lebensgefährten, nicht der Mutter. "Ich denke, sie hatte Angst, dass ich ihren Vater direkt anrufe", vermutet Stefanie. Offenbar war das Vertrauen zu dem Ersatzvater groß. Doch was er sieht und hört, als er der Kleinen die Windeln wechselt, hinterlässt ihn sprachlos und verzweifelt. Das Mädchen hat Schmerzen. Der Papa habe ihr wehgetan, soll die Dreijährige gesagt haben.
Gerade im Familiensystem sei ein Missbrauch nur schwer aufzudecken, erklärt Pertsch. "Das Kind kennt, liebt und vertraut dem Täter ja in der Regel", sagt sie. Doch genau dieses Vertrauensverhältnis und ein gewisses Machtgefälle mache es dem Täter leicht, Druck auf das Kind auszuüben. Er schürt Selbstzweifel: Du wolltest das doch auch. Du hast doch damit angefangen. Er droht dem Kind, schüchtert es ein. "Es entsteht eine hohe emotionale Hürde, sich jemandem anzuvertrauen."
Kindliche Worte
Doch Lara öffnet sich. Sie spricht von Dingen, die sich eine Dreijährige nicht ausdenken kann. Mit ihren naiven, kindlichen Worten beschreibt sie, was der Vater mit ihr gemacht haben soll. "Wo hätte sie so etwas aufschnappen können?", fragt sich die Mutter. "Ein Kind lügt bei Missbrauch nicht", sagt Pertsch aus ihrer Erfahrung. Allein weil es die Erfahrungswelt gar nicht habe. "Ich kann als Dreijährige keinen Missbrauch fantasieren."