"Selbstverteidigung ist dreckig"
Autor: Sabine Christofzik
Kronach, Freitag, 21. März 2014
Frauen müssen sich wehren. Und dabei über ihre Grenzen gehen. Selbstverteidigung beginnt im Kopf - und im Kinderwagen. Im Beitrag finden Sie auch ein Video mit zwei Selbstverteidigungsstrategien.
Mit welchem Geräusch bricht ein kleiner Finger? Darüber möchte ich nicht nachdenken müssen. Nicht, wenn dieser Finger zusammen mit neun anderen an meinem Hals liegt und mir die Luft abdrückt. Ob es knackt wie eine splitternde Salzstange oder wie ein dürrer Zweig, ist absolute Nebensache. Wenn's blöd läuft, ist mein Leben in Gefahr. Im günstigeren Fall meine körperliche Unversehrtheit.
Überraschungsmoment. Um den geht's. Wenn ich eine Chance habe, dann in diesem kleinen Augenblick. Wenn der Angreifer nicht mit Gegenwehr rechnet. Schwachstellen kennen. Darum geht es bei der Selbstverteidigung. Mit welchem Geräusch bricht ein kleiner Finger?
Bloß nicht hinhören müssen?
Auf diese Fragestellung hat Alfred Kluge die Teilnehmerinnen beim Selbstverteidigungskurs für Frauen in Kronach erst einmal bringen müssen.
Und um die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Wenn mich jemand in der Kneipe antatscht und ich habe was dagegen, muss (und darf) ich dem Typen nicht gleich den Finger ins Auge rammen. Da gibt es andere "Denkzettel", die weh und gegebenenfalls verdammt weh tun können.
Unmissverständlich "Nein" sagen lernen
"Bis hier her und nicht weiter" - dieses Signal muss aber vor der Aktion schon gegeben sein. "Stopp! Hör auf, ich will das nicht!"
"Sagt Nein mit fester und lauter Stimme. Sagt es so, dass es nicht als ein ,vielleicht doch' aufgefasst wird. Männer neigen dazu, zu denken, wenn eine Frau nein sagt, meint sie eigentlich gar nicht nein", mahnt der Selbstverteidigungs-Trainer.
Immer aufrecht gehen, nicht den Blick senken. Leuchtet ein. Kluge macht die Probe aufs Exempel. Er wird immer näher kommen, hat er angekündigt. Die junge Frau ist gewappnet.
Drei Meter, einen Meter. Sie steht aufrecht, schaut ihn an. Die 50-Zentimeter-Distanz ist noch nicht ganz erreicht und die Schultern fallen nach vorn, der Blickkontakt bricht ab, sie weicht nach hinten aus. "Opfer!" Alfred Kluges Einschätzung könnte nicht eindeutiger ausfallen.
"Der Täter sieht das. Wenn der Kopf nach unten geht, die Haltung zusammenfällt und die Hand sich um die Tasche krampft, nimmt er das wahr." Wenige Sekunden können entscheiden. Die, in denen der Angreifer seine Entscheidung trifft.
"Frauen, die in diesem Moment selbstsicher dastehen - auch wenn sie's innerlich vielleicht gar nicht sind - werden deutlich weniger zu Opfern als Frauen, die schwach wirken".
Eine Aktion allein bringt nichts
Nicht nachdenken. Machen. Blitzschnell. Den Angreifer überraschen. Es nicht bei einer Aktion bewenden lassen, sondern gleich die nächste folgen lassen. Dazu müssen die Abläufe sofort abrufbar sein. "Üben, üben, üben", schärfen Alfred Kluge und Peggy Bradler, die Co-Kursleiterin, den Frauen ein.
"Ihr müsst Euch wehren. Wer sich nicht wehrt, hat schon verloren. Wer sich wehrt, hat zumindest eine Chance, davonzukommen." Dass es dabei einen schmalen Grat zwischen angemessener Gegenwehr und Überreaktion gibt - was gegebenenfalls auch vor Gericht eine Rolle spielen kann -, verhehlen die beiden nicht.
Frauen sollen sich effektiv zur Wehr setzen können, das ist das Kursziel. Nicht nur gegen handgreifliche Anmache in der Disco. Nicht nur gegen potenzielle Handtaschenräuber. Frauen können in Situationen kommen, in denen mehr auf dem Spiel steht, als nur Handy oder Kreditkarten.
Habe ich den Mut, einem Angreifer in Notwehr das Knie nach hinten durchzutreten oder den Autoschlüssel durchs Gesicht zu ziehen? Muss ich darüber nachdenken?
"Als Frau macht man so was nicht", stellt Alfred Kluge in den Raum und kommt zum Kern des Problems, warum es vielen Frauen schwer fällt, sich zu behaupten und zu wehren. Es ist in den meisten Fällen eine Frage der Erziehung.
"Von Mädchen wird erwartet, das sie lieb und sanft sind, dass sie zurückstecken. Dann werden aus den Mädchen Teenager, die plötzlich zu hören bekommen: Du musst schon sagen, was du willst. Selber schuld, wehr Dich doch! Das wird aber nicht funktionieren."
Wie ist das im Kinderwagen, wenn ein kleiner Junge die Hand wegschiebt, die ihm die Wange streichelt? "Hoho! Der kleine Kerl, der lässt sich nicht alles gefallen." Diese Reaktion ist nicht unwahrscheinlich. Wie fällt sie aus, wenn ein Mädchen auf die gleiche Weise agiert? Bekommt es Bestätigung?
Frauen müssen also an sich arbeiten. Diese Botschaft ist angekommen.Wirklich? Wieso muss ich? Wenn ich aus Kindertagen nicht die nötige Fähigkeit zur Selbstbehauptung mitbringe, werde ich wohl tatsächlich müssen. Ich kann's auch bleiben lassen. Und von denen, die einen Blick dafür haben, als schwach eingeschätzt werden.
Verteidigen, nicht angreifen
Jedoch: Die Grenze zwischen Selbstsicherheit und Provokation kann fließend sein. Daran sollte man auch denken. Wenn Leib und Leben in Gefahr sind, müssen sich Frauen wirksam wehren können. Dazu befähigt ein Selbstverteidigungskurs. Nicht zum Angreifen. Ziel ist, aus der Situation herauskommen und flüchten zu können.
"Seid fies", ruft Alfred Kluge den Frauen in Kronach zu. "Seid fies. Die Täter sind es auch. Selbstverteidigung ist nicht schön. Sie ist schmutzig."
Wenn's wirklich sein muss, wird ein kleiner Finger dabei auf der Stecke bleiben. Oder mehr. Darüber denke ich nicht mehr nach. Auch nicht über das Geräusch, mit dem ein kleiner Finger bricht. Alfred Kluge hat es verraten. Selbst ein doppelter Oberarmbruch, den er schon erlitten hat, ist nicht laut. Und ein Bruch des kleinen Fingers klingt nach splitternder Salzstange.
Ein Interview mit Selbstverteidigungs- und Gewaltpräventionstrainer Alfred Kluge lesen Sie hier.
Was steht im Strafgesetzbuch zur Notwehr?
§ 32 (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
§ 33 Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
§34 Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.
Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.