Druckartikel: Selbstversuch: Wie fühlt es sich an als älterer Mensch?

Selbstversuch: Wie fühlt es sich an als älterer Mensch?


Autor: Marco Meißner

Kronach, Mittwoch, 19. Februar 2014

Die Diakonie hat uns bei einem Helferkurs in Kronach die Möglichkeit zu einem Selbstversuch eröffnet. Die "Age Man"-Kleidung versetzte unseren Reporter Marco Meißner (41) in das Leben eines alten Menschen. Plötzlich wurde alles kompliziert.
Der "Age Man" wird nach dem Selbstversuch wieder abgelegt. Dabei ist unser Reporter für jede Hilfe dankbar. Fotos: Corinna Igler


Das Glas mit Wasser gleitet mir beinahe durch die Finger. Ich kann es in meiner Handfläche kaum spüren. Schwerfällig nehme ich meine zweite Hand hinzu, um es nicht fallen zu lassen. Es ist anstrengend. Ich beginne zu schwitzen. Hinter mir scheint sich jemand köstlich über mein Missgeschick zu amüsieren. Ich höre dumpf ein Kichern. Sehen kann ich die Person nicht. Dazu ist mein Sichtfeld zu eingeschränkt. Das nervt. Doch nachschauen mag ich nicht. Einfach nur so am Tisch zu sitzen, fühlt sich schon belastend genug an. Als würde ein Zentner an meiner Wirbelsäule nach unten zerren. Jetzt auch noch umdrehen? Nein! Ich fühle mich alt. Richtig alt. Und das mit 41.

Einen Joghurt essen, einen Schluck Wasser trinken oder die Jacke zuknöpfen - alles stellt die eigene Geduld auf die Probe. Jegliche Leichtigkeit und Fingerfertigkeit sind verschwunden.



Die Montur, die ich trage, lässt mich äußerlich wirken, wie einen Arbeiter aus einer Stahlfabrik. Graue Latzhose, dicke Jacke, zwei Lagen Handschuhe und ein Visier mit gelber Scheibe. Doch wenn man selbst darin steckt, mutiert man nicht zum Schwerarbeiter, sondern zum Senior. Es ist der "Age Man" - ein Altersanzug.

Ein amüsanter Anblick

Die Menschen, die rund um mich herum sitzen, sich manchmal ein Grinsen nicht verkneifen können, gleichzeitig aber auch mitfühlend auf mich einreden, sind weitgehend ehrenamtliche Helfer. Sie gehören den Diakoniestationen Küps, Kronach, Mitwitz und Seibelsdorf an. Normalerweise treffen sie sich mit der gerontopsychiatrischen Leiterin Kerstin Schulz sowie deren Stellvertreterin Michaela Brandt in der Diakoniestation in Mitwitz. An diesem Tag halten sie ihren Helferinnen- und Helferkurs jedoch im neuen Schulungssaal im Lucas-Cranach-Haus in Kronach. Der Grund: Sonst betreuen sie Senioren und dabei vor allem demenzkranke Menschen, heute wollen sie einmal in die Haut ihrer Schützlinge schlüpfen.

"Die Wahrscheinlichkeit, dement zu werden, steigt mit jedem Jahr über 70, über 80 hinaus", macht Heimleiter und Zweiter Geschäftsführer Harald Klier vom Diakonischen Werk Kronach-Ludwigsstadt/Miche lau klar. Doch man muss im Alter nicht dement sein, um Hilfe oder wenigstens Nachsicht zu benötigen. "Oft heißt es doch schnell: ,Oma, wo bleibst Du denn! Wir müssen los!‘", zeigt er eine ganz alltägliche Situation auf. Was man dabei oft nicht bedenke, sei, wie sich die Großmutter in diesem Moment fühle.

Darum hat er zur Schulung den "Age Man" mitgebracht. Diese Kleidung eröffnet einen neuen Blickwinkel auf das Altern. Selbst für die Diakonie-Helfer, die sich in ihrem Kurs ja einmal wöchentlich mit diesem Thema beschäftigen. Harald Klier hilft jedem, der es einmal ausprobieren will, in den Altersanzug hinein.

Gewichte am ganzen Körper

Erst gibt es eine Weste, die beinahe aussieht wie bei einem Sondereinsatzkommando. Unter den breiten Klettverschlüssen ist sie jedoch nicht kugelsicher, sondern mit Gewichten bestückt. "Da wundert man sich nicht, wenn die älteren Leute abends müde ins Bett fallen", stellt Klier fest, dass dieses belastende, mitunter bedrückende Gefühl für Senioren Alltag ist.

Als nächstes folgen Stoffhandschuhe, weil die Finger älterer Menschen nicht mehr so feinfühlig sind. Darüber werden recht enge "Radlerhandschuhe" gestreift. Sie machen das Greifen viel anstrengender. "Das simuliert Probleme mit den Gelenken", so der Heimleiter. Solche Erschwernisse können mit dem "Age Man" auch an Knien und Ellenbogen angebracht werden.

Handicaps für Augen und Ohren

Jacke und Hose haben weitere Gewichte an Armen und Beinen eingearbeitet. Sie machen das Heben der Gliedmaßen zu einer ermüdenden Arbeit. Klier sagt schmunzelnd: "Und die Nachbarn wundern sich, warum der alte Mann nicht gleich den Arm hochreißt und ihnen zuwinkt."

Schließlich gibt es Kopfhörer, die das Hören stark einschränken und eine Kopfbedeckung mit einem gelben Visier. Dadurch wird das Sichtfeld auf Seniorenniveau begrenzt und gleichzeitig das farbige Sehen eingeschränkt. So fühlen sich also 80 Jahre an!

Ich streife derweil wieder Stück für Stück die Spezialkleidung ab. Beim Ausziehen der Hose bringt mich das ungewohnte Gewicht am Oberkörper kurz ins Taumeln. Dann bin ich die Last endlich los, habe mein Alter halbiert. Aber eines Tages wird es sich vielleicht wieder so anfühlen - und zwar ohne den "Age Man". Dann wird hoffentlich wieder jemand für mich da sein, der mir eine helfende Hand reicht. So wie es die Diakonie-Helferinnen und -Helfer in ihrem Umfeld jeden Tag tun.